«Derzeit erfahren wir nichts über Never Events»

Warum man schwere Behandlungsfehler niemals auf sich beruhen lassen sollte, und warum bei einem solchen Ereignis häufig auch dessen Urheber ein Opfer ist.

, 10. November 2021 um 14:18
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«Never Events» - eigentlich «Niemals-Vorkommnisse»: So heissen bei medizinischen Behandlungen seltene Ereignisse, die Patienten massiv schaden oder woran sie sogar sterben können. Die Stiftung Patientensicherheit organisiert nächste Woche eine Tagung dazu. Sie will erreichen, dass die Schweiz ein einheitliches Melde- und Analysesystem zu solchen Vorkommnissen einführt. Denn derzeit gibt es zwar ein Meldesystem für «Beinahe-Fehler», das CIRS. Aber über die Fehler mit schwerwiegenden Folgen wird kaum je etwas bekannt.
David Schwappach, Direktor der Patientensicherheit Schweiz, erklärt im Interview mit Medinside, warum man «Never Events» niemals einfach auf sich beruhen lassen sollte, und warum bei solchen Ereignissen häufig auch der Urheber ein Opfer des Ereignisses ist.
Herr Schwappach, an der Internationalen Patientensicherheitstagung in gut einer Woche stellen Sie eine neue Never-Events-Liste vor. Sind diese Fälle tatsächlich vorgekommen?
Es sind potenzielle Ereignisse - sozusagen eine Definitionen-Liste, was genau wir als «Never Events» bezeichnen. Es werden keine tatsächlich in der Schweiz vorgekommenen Fälle präsentiert.
Was ist ein krasser Fall eines «Never Events»?
Beispielsweise die Verwechslung eines Eingriffs oder ein Fremdkörper, der unbeabsichtigt im Körper belassen wird. Solche Ereignisse kommen bekanntermassen auch in der Schweiz vor.
Sie möchten ein Meldesystem für Never Events etablieren. Viele Schweizer Spitäler haben das so genannte Critical Incident Reporting System (CIRS). Dieses erfasst systematisch unerwünschte Ereignisse und ist Grundlage für deren konstruktive Bearbeitung im klinikinternen Rahmen. Genügt das CIRS nicht?
Das CIRS ist gewissermassen das Gegenstück zu einem Never-Events-Register. Im CIRS werden eben gerade keine Ereignisse mit Schadensfolge gemeldet. Im CIRS geht es um Fehler, die zu keinem Schaden geführt haben. «Never Events» sind gewissermassen die Spitze des Eisberges: Seltene Fälle mit schwerwiegenden Folgen. Derzeit erfahren wir nichts über diese Fälle. Dies ist bedauerlich, weil man deswegen daraus nichts lernen kann. Unser Interesse ist nicht, einzelne Personen oder Institutionen anzuprangern. Aber es ist schon merkwürdig, dass wir recht viel darüber wissen, was alles «beinahe» schief gegangen ist, aber nichts darüber, was wirklich zu ernsten Folgen geführt hat.
Wäre das Never-Event-Meldesystem obligatorisch für alle Spitäler und Ärzte?
Wir ziehen zunächst eine freiwillige Lösung vor und hoffen, dass sich daran möglichst viele Organisationen verbindlich beteiligen. Es ist das mindeste, was man nach einem Never Event machen kann: Einen Beitrag leisten, dass es nicht wieder passiert. Und dieser Beitrag kann wesentlich darin liegen, zu einem Verständnis der Ursachen und Abläufe beizutragen. Aber natürlich: Wenn die Freiwilligkeit mittelfristig nicht funktioniert, muss man über ein Obligatorium nachdenken. Der Wert der Informationen und das Potential zur Prävention beizutragen ist zu hoch, als dass man die Never Events einfach sich selbst überlassen kann.
Was hindert eigentlich medizinische Fachleute daran, solche Ereignisse zu melden?
Zum einen wurde bisher nicht danach gefragt. Zum anderen gibt es derzeit keinen juristischen Schutz für solche Meldesysteme. Das ist ein grosses Problem in der Schweiz und wir verstehen die Sorgen, die medizinische Fachpersonen haben. Deswegen setzen wir uns auch sehr für den juristischen Schutz von Melde- und Lernsystemen ein. Unser Interesse ist nicht, dass einzelne Ärztinnen und Ärzte oder Institutionen angeprangert werden.
Ihnen geht es vor allem um das Verhindern von weiteren Fehlern. Müsste man aber die medizinischen Fachleute, denen so ein massiver Fehler passiert, nicht auch noch psychologisch betreuen? Ich nehme an, das geht nicht spurlos an einem vorbei.
Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Tatsächlich ist es so, dass die Beteiligten an einem Fehler – und insbesondere bei so schwerwiegenden Ereignissen – oft stark und lange darunter leiden. Man nennt dieses Phänomen «second victim». Wir haben uns schon länger damit beschäftigt und bei uns findet man gute Angebote und Informationen darüber, was man selber, was Kollegen, und was Führungskräfte tun können, um damit umzugehen. Zusätzlich gibt es auch verschiedene Angebote, wo man Hilfe bekommen kann, etwa die Telefonhotline Remed der FMH.
Gibt es Länder, die Ihnen ein Vorbild im Umgang mit Never Events sind?
Es sind vor allem die angelsächsischen Länder, die weiter sind und Meldesysteme haben.
Was machen diese Länder besser?
Vor allem die Analyse und Aufarbeitung durch Expertinnen und Experten. Sehr häufig stösst man dabei auf übergeordnete Risiken, die für die einzelne Person oder Organisation kaum veränderbar sind. Zum Beispiel wie verwechslungsanfällig Verpackungen von Medikamenten sind. Wenn man diese Probleme nicht angeht, dann wird das gleiche Ereignis vermutlich irgendwann wieder an einem anderen Ort passieren. Wir brauchen also solche Analysen, die Ursachen und Präventionsmassnahmen auf allen Ebenen des Systems ansprechen. Dies kann das einzelne Spital nicht, dafür braucht es eine nationale anerkannte, kompetente Organisation.

Fachleute diskutieren über «Never Events»

Niemals wieder?! So lautet der Titel der internationalen Patientensicherheitstagung. Fachleute diskutieren darüber, wie mit einem Meldesystem für «Never Events» die Patientensicherheit verbessert werden kann.
Die Tagung findet statt am 18. und 19. November im Careum-Auditorium, Pestalozzistrasse 11, 8032 Zürich.
Anschliessend findet am 19. November die nationale CIRRNET-Tagung statt, die unter dem Titel «Nutzung von CIRS-Wissen zur Vermeidung von Never Events» das Kongressthema aufnimmt und in die praktische Arbeit des nationalen Meldenetzwerks überträgt.
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