Das sind die wichtigsten Treiber für Überversorgung

Überversorgung hat viele Gründe: So ist für Ärzte und Patienten aktives Handeln oft besser als vielleicht medizinisch korrektes Abwarten und Beobachten. Aus Ungewissheit. Was sind die Lösungsansätze gegen Überdiagnosen?

, 5. November 2019 um 09:01
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Erhalten Patienten medizinische Leistungen, die für sie nicht notwendig und in ihrem Nutzen fragwürdig oder sogar schädlich sind, führt das zu einer teuren Überversorgung. Ein weit verbreitetes Phänomen. Die Industrialisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesen haben wohl einen gewissen Einfluss auf Überdiagnosen. Doch nicht nur, wie eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung aus Deutschland zeigt. So verdeutlicht die Analyse: Überversorgung hat viele Gründe und wird von vielen Faktoren beeinflusst.  
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Einflussfaktoren auf Überversorgung | Quelle: Bertelsmann-Stiftung

Überversorgung: Ja, aber nicht bei mir

Auffällig ist: Viele Menschen haben zwar ein Bewusstsein für Überversorgung, fühlen sich selbst aber nicht davon betroffen. Rund die Hälfte stimmten in der repräsentativen Befragung der Aussage zu, dass (sehr) oft medizinisch nicht notwendige Leistungen erbracht werden. Doch viele Patienten sind sich dessen kaum bewusst, möglicherweise schon selbst einmal unnötige medizinische Leistungen erhalten zu haben.
Patienten fordern nämlich eher viele Leistungen und Diagnostik ein und erachten diese als notwendig, wie die aktuelle Analyse der einflussreichen Denkfabrik aus Deutschland weiter zeigt. Faktoren, die das Bewusstsein von Patienten für eine mögliche Überversorgung und ihre (oft unbewusste) Nachfrage danach beeinflussen, sind:
  • Ängste vor einer bestimmten Erkrankung,
  • Ungeduld und Kontrollbedürfnis,
  • das Angebot medizinischer und technologischer Leistungen oder
  • der Versichertenstatus und die Berichterstattung in den Medien.

Lieber ein Rezept als abwarten und Tee trinken

So führe die weit verbreitete Einstellung, im Zweifel lieber nichts unentdeckt und unversucht zu lassen, zu Aktionismus. Ärzte und Patienten sagen übereinstimmend, dass Ungewissheit schwer auszuhalten sei. Ein aktives Handeln sei deshalb oft besser als abzuwarten – was sie mit Nichtstun gleichsetzen.
Mediziner gaben in der Befragung weiter an, eine (Be-)Handlung könne Schuldgefühle reduzieren und als moralische Rechtfertigung dienen. Die Haltung, dass jede Therapie besser sei als Abwarten und Nichtstun, wird von den Ergebnissen der Bevölkerungsbefragung gestützt: 56 Prozent der Befragten stimmen dieser Aussage zu.
Oftmals reagieren Ärzte auf eine offene Ansprache des Themas Überversorgung abwehrend oder verärgert. Dies kann laut Studienautoren als Indiz verstanden werden, unter welchem Druck Ärzte im Alltag teilweise agieren. 

Auch ganz bewusst nicht notwendige Leistungen

Es komme zudem vor, so die Studienautoren weiter, dass Ärzte den Patientenwünschen nachgeben – auch aus Zeitdruck. Die Aufklärung über den geringen oder fehlenden Nutzen und mögliche Schäden einer Massnahme sei häufig aufwendiger, als diese durchzuführen. Patienten wiederum könnten dies als Zuwendung, Fürsorge oder aktive Hilfe wahrnehmen. Ein Teufelskreis.
Teilweise geben Ärzte konkreten Forderungen von Patienten nach unnötigen Leistungen auch nach, um Konflikte und negative Beurteilungen in Arztbewertungs-Portalen zu vermeiden. Und manche der in der Studie befragten Ärzte erbringen oder verordnen einem Patienten auch ganz bewusst medizinisch nicht notwendige Leistungen: Sie wollen damit eher seine seelischen Bedürfnisse nach Zuwendung und Fürsorge erfüllen.

Begrenzte Budgets führen zu Gegenreaktionen

Auch finanzieller Druck und eigene Einkommensinteressen veranlassen Ärzte, Patienten nicht notwendige Massnahmen anzubieten, wie aus der Analyse weiter hervorgeht. Fallpauschalen und begrenzte Budgets empfinden einige zudem als mangelnde Wertschätzung ihrer ärztlichen Leistung und als Beschränkung ihrer ärztlichen Autonomie. Dieser Ärger führt dann zu Gegenreaktionen, die zum Teil in Überversorgung münden.


Weiter Ursachen für die mögliche Überversorgung begründen die befragten Ärzte darüber hinaus mit eigener Absicherung: zur Vermeidung von Schuldgefühlen und rechtlichen Konsequenzen. «Wenn jemand Angst hat, dass seine Herzkranzgefässe verengt sein könnten, lege ich einen Herzkatheter. Dann fühlen sich beide sicherer», wird etwa ein Arzt in der Studie zitiert. 

Die Autoren der Bertelsmann Stiftung empfehlen folgende Massnahmen:
  • Ethische Verantwortung übernehmen: Ärzte stehen in der Verantwortung, mit ihren Patienten Nutzen und Risiken der in Frage kommenden Behandlungsoptionen zu besprechen. Sie sollten ihren Patienten stärker bewusst machen, dass überlegtes Abwarten und Beobachten auch in ihrem Fall viele unnötige und eventuell schädigende Massnahmen verhindern kann.
  • Unnötige Leistungen unterlassen: Praxen und Kliniken sollten Strategien entwickeln, um wenig erfolgversprechende Massnahmen nicht mehr durchzuführen. «Choosing Wisely» kann dabei unterstützen. Die Leistungsanbieter müssen Interessenkonflikte transparent machen.
  • Nutzen und Risiken medizinischer Leistungen stärker verdeutlichen: Politik und Selbstverwaltung sollten einen leichten Zugang zu evidenzbasierten Informationen und Entscheidungshilfen für Patienten und Ärzte schaffen, beispielsweise in der Elektronischen Patientenakte.
  • Planung und Vergütung optimieren: Politik und Selbstverwaltung sollten die Gesundheitsversorgung bedarfsorientiert und sektorenübergreifend planen und organisieren. Zudem sollten sie die Vergütung stärker an der (Indikations-)Qualität ausrichten und bessere Voraussetzungen für gute Patienteninformation und Informationsflüsse schaffen.


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