Die Argumentation war grotesk, und das macht sie interessant: Der «Sonntagsblick» veröffentlichte soeben eine lange Stellungnahme von Jacques Pilet, in der sich der bekannte welsche Publizist drastisch gegen eine Wahl von Ignazio Cassis in den Bundesrat aussprach. Das Hauptargument: Cassis sei ein Vertreter der Krankenkassen (mehr dazu
hier)
Das war nicht weiter überraschend: Jacques Pilet will einfach den Bundesratssitz von Didier Burkhalter für die Romandie retten. Sonderbar wurde es aber, weil er Cassis einerseits das Curafutura-Präsidium zum Vorwurf machte, aber im gleichen Atemzug Isabelle Moret als Gegenkandidatin nach oben schrieb – also die Präsidentin des Spitalverbandes H+.
Kostenbomben Kassen
Und vollends grotesk war die Art, wie Pilet den Curafutura-Vorwurf konkretisierte: Die Krankenkassen seien die Haupttreiber der Gesundheitskosten in der Schweiz. «Massgeblich schuld an diesen Monsterkosten sind die Krankenkassen: Es gibt viel zu viele von ihnen – nämlich 59 –, und das ist ein erheblicher Kostenfaktor. Vor allem aber haben die Kassen kein wirkliches Interesse, die Gesundheitskosten zu senken. Viel zu stark profitieren sie von den jährlichen Umsatzsteigerungen.»
H+ geht, Curafutura geht nicht, und schuldig an der Gesundheitskosten-Explosion sind die Kassen: Der Dreisatz lässt ahnen, auf wieviel Know-how die öffentliche Gesundheitsdebatte in der Schweiz bauen kann. Zweitens aber bringt die Kandidatur von Ignazio Cassis ans Licht, dass die Krankenversicherer wohl tatsächlich ein Imageproblem haben. Sowohl vor den Parteien als auch vor den Medien muss sich der Tessiner stetig für seine Curafutura-Rolle rechtfertigen.
«…eine Terrorgruppe wie der IS»
«Warum werde ich derart kritisiert, dass ich für Krankenkassen arbeite?», fragte Cassis nun in einem
Interview mit dem «Tages-Anzeiger» zurück: «Man könnte meinen, die Kassen seien eine Terrorgruppe wie der IS. Stattdessen sind sie im Grundversicherungsbereich Non-Profit-Organisationen, die als Treuhänder der Versicherten handeln und vom Volk mehrmals als Bestandteil unseres Gesundheitswesens gutgeheissen wurden.»
In den Debatten um den «Kranken-Cassis» (so das beliebte Schlagwort) wird einerseits das stattliche Präsidiums-Honorar von 180'000 Franken thematisiert. Aber immer geht es auch um das Grundsätzliche. Es geht um den Verdacht, dass er als Bundesrat Versicherer-Politik machen würde.
Er frage sich, was die Krankenkassen falsch gemacht haben, dass ihr Ruf derart schlecht ist, vor allem in der Romandie und im Tessin, so Cassis im Tagi-Interview weiter: «Niemand kämpft mehr gegen die Prämienerhöhungen als die Kassen. Was kann daran so falsch sein?»
FMH? Kein Problem
Erstaunlich offen bringt er als Gegenargument vor, dass er ja von 2008 bis 2012 als Vizepräsident für die FMH tätig war: «Wo ist hier die Logik? Als ich für die Ärzteverbindung FMH arbeitete, setzte ich mich unter anderem für eine gute Bezahlung der Ärzte ein. Dafür wurde ich nicht kritisiert, obwohl dies die Prämien steigen lässt.»
Tatsächlich wechselte Cassis 2012 eine Front, als er in einer Motion entschieden gegen die Einheitskassen-Initiative von SP und Konsumentenorganisationen eintrat. Die
«Südostschweiz» zeigt in einem Kommentar jetzt auf, dass er damit Teil einer «Machtdemonstration der vereinigten Kassenlobby» war. Denn zeitgleich reichten vier weitere Schwergewichte der Gesundheitspolitik je eine Motion mit demselben Inhalt ein: SVP-Nationalrat Thomas de Courten (Intergenerika), der damalige Freiburger CVP-Ständerat Urs Schwaller (heute Groupe Mutuel), der Berner BDP-Nationalrat Lorenz Hess (heute Visana), die Aargauer CVP-Nationalrätin Ruth Humbel (ehemals Santésuisse, Groupe Mutuel, heute Concordia).
«Krönung der Kassen»
Der Widerstand gegen Ignazio Cassis spiegelt also vielleicht weniger ein allgemeines Imageproblem der Kassen – sondern dass diese als starke Lobbymacht wahrgenommen werden. Und so sieht eben nicht nur der Romandie-Lobbyist Pilet in Ignazio Cassis eine Stimme für die Kassen (und gegen alle Ideen einer Einheitskasse, die insbesondere in der lateinischen Schweiz immer noch gehegt werden).
«Die Kassen haben also gute Chancen, ihren ersten Bundesrat zu erhalten», schreibt die «Südostschweiz»: «Der frühere FDP-Bundesrat Pascal Couchepin stand zwar der Groupe Mutuel (deren Hauptsitz in Couchepins Wohnort Martigny liegt) nahe. Aber er war nie auch nur annähernd so kassennahe wie Ignazio Cassis. Und sollte dieser tatsächlich gewählt werden, dann ist auch ein weiterer Schritt nicht illusorisch: Dass ihm der neu zusammengesetzte Bundesrat das Gesundheitsdepartement von Alain Berset zuspricht. Das wäre eine Art Krönung des Tessiners und seiner Kassen.»
Um etwas Wind aus der Sache zu nehmen,
kündigte Ignazio Cassis gestern an, das Curafutura-Amt nach einer definitiven Nominierung durch die FDP-Delegierten Anfang August niederzulegen. Bis auf weiteres.