Lockdown: Überschätzten wir uns selbst?

Lockdown – ein Reflex in der Not

, 10. Oktober 2020 um 05:46
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Als die Covid-19-Epidemie Europa erreichte, hatte ich in internen Vorträgen, basierend auf den Berichten zur Spanischen Grippe, immer wieder betont, wie wichtig ein rasches, entschlossenes Handeln der Staaten sei. Ich begrüsste das entschlossene Handeln des Bundesrats Mitte März: Der Lockdown sollte uns nach dem Beispiel der Spanischen Grippe vor grösseren gesundheitlichen und wirtschaftlichen Konsequenzen bewahren.
Doch als wissenschaftlich interessierter Arzt hatte ich natürlich immer auch Zweifel an meiner «Sicherheit». Corona ist ja nicht Influenza. Gewohnt, jede Hypothese zu hinterfragen, mussten wir die Möglichkeit offenhalten, dass sich die Entscheidung auch als falsch erweisen könnte. Denn das wissenschaftliche Denken lehrt uns, dass es genau die Fehler sind, die uns letztendlich weiterbringen. Daher müssen wir aufmerksam und kritisch bleiben, um allfällige Fehler rasch zu erkennen und daraus bessere Handlungen abzuleiten.

Erste Zweifel schon früh aufgetaucht

Eine interessante Beobachtung erfolgte nach der kontinuierlichen Erfassung der Reproduktionsraten durch die ETH Zürich (s. unser Bericht): Die Autoren wollten aus dem frühen Abfall der Reproduktionsraten – bereits vor dem Lockdown – auf keinen Fall den Schluss ziehen, dass der Lockdown nicht gerechtfertigt war. Sicher, das wäre unseriös gewesen. Doch man muss den Zweifeln nachgehen, insbesondere, da andere Länder dieselbe Beobachtung machten.

Kritische Überprüfung hegt Zweifel an Lockdown Wirksamkeit

Drei Ökonomen aus den USA (A. Atkeson, K. Kopecky, T. Zha) aus dem National Bureau of Economic Research haben die Frage der Wirksamkeit von Lockdown Massnahmen basierend auf den Erfahrungen von 48 Staaten untersucht (Atkeson et al, 26.8.20). Dabei sind sie der Frage nachgegangen, inwieweit sich die Ausbreitung der Epidemie in den Staaten mit unterschiedlich aggressivem Vorgehen unterscheiden. Dabei haben sie sich grundsätzlich auf zwei wichtige Parameter abgestützt: tägliche Todesfallzahlen und die Entwicklung der Reproduktionsrate (durchschnittliche Anzahl Neuinfektionen, die von einer Person ausgehen) über die Zeit.
Eingeschlossen wurden die Länder mit mehr als 1000 Todesfällen vom Zeitpunkt an, als 25 Personen in einem Land (oder US-Staat) an Covid-19 gestorben sind und die Beobachtung endete Ende Juli. Die Autoren haben sich auch die Mühe genommen und verschiedene Methoden zur Bestimmung der effektiven Reproduktionsrate (Reff) eingesetzt und sie haben auch verschiedene Methoden eingesetzt, um die Tagesschwankungen bei den Todeszahlen zu kompensieren.
Mit diesen einfachen, aber systematisch ausgewerteten Beobachtungen kommen die Autoren auf eindrückliche Schlussfolgerungen:
  • Die Ausbreitung der Epidemie ist in allen Ländern mehr oder weniger uniform
  • Nach einem kurzen exponentiellen Anstieg der Todeszahlen folgt ein Abfall der Todesfälle innert rund einem Monat auf sehr tiefe Werte (in allen Ländern!)
  • Die Unterschiede des Abfalls der Fallzahlen zwischen den Ländern (Standard Abweichung) nach den ersten 10 Tagen der Epidemie sind überraschend klein.
  • Nach dem Abfall der epidemischen Kurve sind die Todeszahlen nicht mehr angestiegen, auch wenn die «Lockdown»-Massnahmen in zahlreichen Staaten massiv gelockert wurden.
  • In der Zeit nach einem Monat (nach Beginn der Ausbreitung) war die Reproduktionsrate in allen Staaten einheitlich tief und blieb auf diesen tiefen Werten.
Die unten stehende Abbildung zeigt die Anstiegsrate der Todesfälle (linke Achse). In allen Staaten fällt der Anstieg der Todesfälle (Mittelwert, schwarze Linie) bereits nach rund 30 Tagen gegen Null ab. Dies entspricht einer Reff von 1 (Skala rechts). Was die Autoren hervorheben ist das enge Konfidenzintervall nach den ersten Wochen mit grosser Streubreite. Mit anderen Worten: Auch wenn die Ausgestaltung der Präventionsmassnahmen in den untersuchten Ländern sehr unterschiedlich war, am Ende waren die Reff-Werte nach der ersten Welle in allen Ländern recht ähnlich. Dies lässt vermuten, dass die Wahl der Massnahmen wirklich eine untergeordnete Rolle gespielt haben dürfte.
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Arbeit wenig diskutiert

Die Publikation ist schon länger online. Die ersten (sieben) Twitter-Kommentare waren recht positiv. Tobias Straumann verfasste in der NZZ am Sonntag vom 19.9.20 eine sehr klare Zusammenfassung der Arbeit. Aber irgendwie scheint die Öffentlichkeit von diesen wichtigen Resultaten nicht wirklich Kenntnis genommen zu haben. Vielleicht passen die Resultate auch nicht in das gängige Muster.

Lockdown – kritische Evaluation angezeigt

Wir hatten kürzlich eine Arbeit kommentiert, die im internationalen Vergleich den «Lock-down-Massnahmen» kaum eine Wirksamkeit auf die Mortalität nachweisen konnte (s. infekt.ch). Reduziert wurde die Anzahl Fälle. Die Mortalität war eher abhängig vom Zustand des Gesundheitssystems. Nicht dass ich jetzt retrospektiv den Lockdown in Frage stellen würde. Aber die vorhandenen Daten sollten uns davor warnen, diese Methode auch ein zweites Mal anzuwenden. Und die Erfahrung sollte uns auch lehren, dass vielleicht nicht jede gut gemeinte Idee – ich denke auch an all die Plastikscheiben und Desinfektionsspender – wirklich so schlau ist, wie wir das manchmal glauben.

Persönliche Massnahmen bleiben wichtig

Die hier präsentierte Analyse soll nicht suggerieren, dass Präventionsmassnahmen nicht notwendig sind. Fast alle Länder haben zur Intensivierung von persönlichen Hygienemassnahmen aufgerufen. Grossanlässe wurden weniger durchgeführt, Kontaktmöglichkeiten wurden reduziert. All diese Massnahmen haben zweifelsohne ihre Wirkung. Die Frage ist nur, ob die in verschiedenen Staaten unterschiedlich durchgesetzten Zwangsmassnahmen tatsächlich als effizient beurteilt werden können.
Einschränkend möchte ich auch darauf hinweisen, dass einige Staaten, die hier möglicherweise nicht berücksichtigt wurden, einen deutlich verzögerten Anstieg der Epidemie hatten. Dies betrifft vor allem die Länder der südlichen Hemisphäre. Dort zeigt sich, dass der Anstieg sehr viel langsamer erfolgte und daher auch der Abfall der Todefallrate sehr viel später eintrat. Das könnte eine Limitation der Studie sein.

Evaluation – die kritische Selbstprüfung

Gerade wenn man bei einer Entscheidung unsicher ist, muss man mit einer begleitenden Evaluation prüfen, ob die Massnahmen wirklich richtig sind. Eine solche Evaluation müsste so angelegt sein, dass dabei unsere zuvor getroffenen Annahmen überprüft werden. Wenn es uns nicht gelingt, diese Annahmen zu falsifizieren, wird es immer wahrscheinlicher, dass die Entscheidungen richtig waren. Wir dürfen uns nicht schämen, wenn sich eine Massnahme als unwirksam herausstellt. Schämen müssen wir uns, wenn wir unser Handeln nicht einer selbstkritischen Evaluation unterziehen.

Viele Entscheidungen ohne Grundlage

Das Beispiel des Lockdowns ist nur eines unter vielen. Auch andere Entscheidungen basieren auf unbelegten Annahmen. So wird uns zum Beispiel gesagt, man müsse viele Tests durchführen, um die Ausbreitung der Epidemie einzudämmen. Ich kenne keine Evidenz, die das unterstützt. Das Gegenteil zu beweisen ist auch schwierig. Ein Hinweis für eine fehlende Wirksamkeit könnte ein Ländervergleich sein: Wenn wir Länder mit hoher oder tiefer Testrate vergleichen, finden wir keine Korrelation zwischen Testaktivität und Covid-19 Mortalität (s. ourworldindata.org). Aber eine fehlende Korrelation ist kein schlüssiger Beweis. Aber mindestens sollten uns die Beobachtungen motivieren, die eingeschlagene Test-Strategie systematisch zu evaluieren.

Reiserückkehrer in Quarantäne: wozu?

Oder dann beschliesst der Bund eine Quarantäne von Reiserückkehrern. Da müsste es doch selbstverständlich sein, dass man diese Daten auch überprüft. Wie viele werden in Quarantäne tatsächlich krank, und zu welchem Zeitpunkt? Aber nein: Der Bund hat KEIN Instrument, das die Daten zur Quarantäne systematisch erfasst. Das BAG kann daher auch keine Aussagen zu den Erfahrungen mit der Quarantäne bei Reiserückkehrern machen. Persönliche Informationen aus wenigen Kantonen weisen darauf hin, dass die Quarantäne bei Reiserückkehrern in weniger als einem Prozent der Betroffenen zu einer Infektion führt. Jede saubere Evaluation würde angesichts einer so lausigen Effizienz die Quarantäne bei Reiserückkehrern stoppen, subito!
Prof. Pietro Vernazza ist Chefarzt der Infektiologie und seit 1985 beim Kantonsspital St. Gallen tätig. Vor seiner Arbeit am Kantonsspital hat er folgende Ausbildungen absolviert: Studium Humanmedizin, Universität Zürich 1976 -1982 / Klinische Ausbildung Innere Medizin 1983-1988, Sursee und St. Gallen / Ausbildung Infektiologie 1989-6/91 St. Gallen, 7/91-9/93 UNC, Chapel Hill, NC, USA
Dieser Artikel erschien zuerst auf infekt.ch.
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