Dass der Fortschritt durch neue Pharma-Wirkstoffe langsamer verläuft, als es von aussen erscheint: Das wissen die Mediziner. Dennoch lassen die stetigen Zulassungen innovativer Arzneien (und die wachsende Zahl von «Fast Track»-Bewilligungen) auf ein gewisses Grundtempo hoffen. Wie jetzt aber gerade zwei Untersuchungen zeigen, ist auch diese Entwicklung wohl oft illusionär.
Neue Daten bieten zum einen die deutschen Krankenkassen. Sie haben insgesamt 129 Medikamente geprüft, die in den letzten vier Jahren neu auf den Markt kamen. Das Fazit:
- Nur bei einem Drittel sei ein zusätzlicher Nutzen für die Patienten nachweisbar (44 Medikamente).
- Bei einem anderen Drittel (44) lasse sich nur für einen kleinen Teil der Patienten ein Zusatznutzen feststellen.
- Und einem knappen Drittel schliesslich (41) seien die neu zugelassenen Mittel nicht besser als Medikamente, die bereits zuvor verfügbar waren.
Laut dem Spitzenverband der deutschen Krankenkassen GKV richteten sich die 129 überprüften Medikamente weitgehend gegen Krebserkrankungen, gegen Infektionserkrankungen wie Hepatitis oder Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes.
Zu den Mitteilungen des Spitzenverbandes GVK, Januar 2017:
Dies erhärtet also den Eindruck, dass viele Pharma-Innovationen eher Scheininnovationen sein dürften. Wobei die Medikamentenbranche auf der anderen Seite anfügen kann, dass einzelne neue Produkte dann wieder einen so grossen Sprung ermöglichen, dass sie Forschungsaufwand und Kosten wert sind.
Dieses Grundverhältnis zwischen Masse und Klasse spiegelt sich in einer anderen Arbeit. Sie wurde soeben in «JAMA Oncology» veröffentlicht, und zwar von Medizinern und Ökonomen aus London und Boston. Im Kern besagt die Studie, dass die Krebsmedikamente der letzten Jahrzehnts kaum je wirklich schlagkräftige Fortschritte gebracht haben.
Im Schnitt 3,5 Monate mehr
Konkret: Ein Team um den Onkologen Elias Mossialos vom Massachusetts General Hospital überprüfte insgesamt 62 neue Medikamente, die seit 2003 in den USA und Europa zugelassen worden; dabei wurden Patienten in England, Frankreich und Australien beobachtet.
Im Schnitt verlängerten all diese erfassten Medikamente die Überlebenszeit um 3,5 Monate. Aber natürlich gab es Unterschiede: Bei 23 Wirkstoffen stellten die Wissenschaftler eine Lebensverlängerung um mehr als 3 Monate fest. Bei sechs Mitteln waren es weniger, bei acht blieben die Daten unklar. Und bei insgesamt 16 der neu bewilligten Produkte liessen sich keine Fortschritte festmachen: «there was no evidence to suggest», so der Text, dass sie besser waren als bereits bestehende Mittel.
Mit anderen Worten: Die Quote, dass höchstens bei rund einem Drittel der neuen Mittel Vorteile für die Patienten erkennbar werden – sie galt offenbar auch hier.
Aber eben: Ein Argument können die Pharmahersteller allerdings anführen – nämlich dass bei diversen Medikamenten beziehungsweise Krebsarten die Unterschiede tatsächlich sehr signifikant waren. So schafften es die Medikamente gegen Brustkrebs, das Leben der Patientinnen im Schnitt um 8,5 Monate zu verlängern. Beim Schilddrüsenkrebs liessen sich auf der anderen Seite jedoch überhaupt keine Veränderungen der Überlebenszeit festmachen.
«Behauptete Effizienz»
Ein anderer Aspekt: Bei 22 der neuen Medikamente wurde eine Verbesserung der Lebensqualität festgestellt. Auf der anderen Seite sichteten die Forscher bei 24 Mitteln Einschränkungen bei der patient safety, wozu sie auch Nebenwirkungen oder Intoleranzen zählten.
Unterm Strich melden die Autoren in ihren «Conclusions» doch ernsthafte Skepsis an. Es gebe Grund zu bezweifeln, «dass die behauptete Effizienz auch wirklich die Effektivität in der Realität spiegelt». Und diese Erkenntnis wiederum «stellen wichtige Fragen für die klinische Entscheidungsfindung und für die wertbasierte Beurteilung in den Raum».
«Ärzte würden profitieren»
«Davon würden niedergelassene Ärzte, Krankenhausärzte und Apotheker enorm profitieren», so von Stackelberg. Und weiter: «Nur wenn die Ärzte wissen, welche neuen Arzneimittel wirklich besser sind, können sie ihre Patienten gut versorgen.»