Einsamkeit, Schulstress und Zukunftsängste – «die psychische Gesundheit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist aufgrund der Corona-Pandemie stark belastet», schreiben der Verband Die Dargebotene Hand, die Stiftung Pro Mente Sana und der Fachverband Public Health Schweiz in einer gemeinsamen Mitteilung.
Einer Umfrage der Universität Basel zufolge würden 29 Prozent der befragten Jugendlichen schwere depressive Symptome aufweisen. Sabine Basler, Geschäftsführerin der «Dargebotenen Hand» : «Themen wie psychisches Leiden, Einsamkeit und Gewalt haben bei den Anrufen von Jugendlichen um mehr als hundert Prozent zugenommen». Auch die mittlere Gesprächsdauer habe sich 2020 deutlich erhöht, gibt sie zu denken.
Viel zu lange Wartezeiten
«Wir haben bereits vor Corona darauf verwiesen, dass die psychiatrisch-psychotherapeutische Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz ungenügend ist», erinnert Daniel Frey, Arzt und ehemaliger Direktor der Schulgesundheitsdienste der Stadt Zürich sowie Vorstandsmitglied von «Public Health Schweiz».
Die Situation habe sich durch die Pandemie verschärft. «Dass ein junger Mensch in einer psychischen Krise teilweise mehrere Monate auf ein Versorgungsangebot warten muss, ist unhaltbar», so Frey.
Besseres Therapie-Angebot gefordert
Dies soll sich so schnell wie möglich ändern: «Die Dargebotene Hand», «Pro Mente Sana» und «Public Health Schweiz» fordern einen Ausbau von bestehenden Versorgungsangeboten und -strukturen für Therapie und Krisenintervention. Es seien kurzfristig mehr Plätze für die Behandlung notwendig, um unabsehbaren mittel- und langfristigen Folgen auf die psychische Gesundheit von jungen Menschen vorzubeugen.
Längst beschlossen ist, dass die Grundversicherung die psychologische Psychotherapie bezahlt, sofern sie auf Anordnung eines Arztes oder einer Ärztin erfolgt ist. Die Krux: Die Regelung tritt erst am 1. Juli 2022 in Kraft. «Eine frühere Inkraftsetzung dieser Regelung würde das Angebot an Psychotherapieplätzen für Kinder und Jugendliche rasch vergrössern», meint Daniel Frey.
«Bescheidenes Budget»
Diese Sofortmassen erachten die Fachleute als rasch umsetzbar:
- Erste-Hilfe-Kurse vergünstigt anbieten, bei denen der Fokus auf der Begleitung von psychisch belasteten Jugendlichen liegt,
- die psychische Gesundheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch gezielte Aktivitäten in der Schule, in Lehr- und Ausbildungseinrichtungen sowie an Jugendsportanlässen stärken,
- laufende Kampagnen ausbauen, um für die eigene Befindlichkeit zu sensibilisieren und das Hilfeholen enttabuisieren,
- die Schulpsychologischen Dienste der Kantone unterstützen und
- niederschwellige Angebote ausbauen sowie bekannter machen.
Dafür fordern «Die Dargebotene Hand», «Pro Mente Sana» und «Public Health Schweiz» jetzt 125 Millionen Franken und vergleichen ihr Anliegen mit dem Förderprogramm über 50 Millionen Franken für die Entwicklung von Medikamenten.
«Im Vergleich zur Schnelltestmilliarde ist dieses Budget bescheiden», sagt Roger Staub, Geschäftsleiter von «Pro Mente Sana». Jetzt nichts tun, werde viel teurer, denn es sei mit gravierenden Folgen für die betroffenen Jugendlichen und ihre Familien zu rechnen. «Dies sehen auch die Stiftung Pro Juventute und die Dachverbände der Jugendorganisationen so; sie haben unlängst einen Appell lanciert, der eine Post-Corona-Strategie für Jugendliche fordert», heisst in der Mitteilung.
Nationalrätin hat Postulat eingereicht
Damit ist man in Bern auf offene Ohren gestossen: «Es ist offensichtlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht», wird Nationalrätin Sandra Locher Benguerel, selbst Pädagogin, zitiert. Gemeinsam mit der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrates hat sie ein Postulat zur Stärkung der Psychischen Gesundheit der Jugend eingereicht, das am Mittwoch im Nationalrat traktandiert ist.
Es fehle ein Gesamtüberblick über die aktuelle Lage in der Schweiz, so Locher Benguerel. Nationalrat Nik Gugger: «Wenn psychische Erkrankungen erst mit grosser Verzögerung korrekt erkannt und behandelt werden, führt dies zu einer höheren Krankheitslast für die Betroffenen und zu höheren Kosten für die gesamte Gesellschaft.» Er werde in der laufenden Sommersession einen breit abgestützten Vorstoss einreichen, der die ungenügende psychische Versorgungslage von Kindern und Jugendlichen adressiert.
Gesetzliche Grundlage nicht ausreichend
Dass die Politik das Thema psychische Gesundheit aufgenommen hat, lässt die Fachleute hoffen: «Das Problem ist, dass es an einer gesetzlichen Grundlage fehlt, um präventive Massnahmen langfristig zu finanzieren», sagt Corina Wirth, Geschäftsführerin von Public Health Schweiz. Roger Staub verweist in der Mitteilung auf die Notwendigkeit einer nationalen Koordination und Steuerung der Aktivitäten. Dazu brauche es mittelfristig erweiterte gesetzliche Grundlagen in Ergänzung zum Krankenversicherungsgesetz KVG.