In einem Satz könnte man sagen: Die Sache harzt in der Schweiz. Die meisten Ärzte anerkennen zumindest gegen aussen, dass Listen mit unnötigen Behandlungen sowohl für die Patienten wie für die Gesundheitskosten ganz nützlich wären. Aber viel mehr lief da bislang nicht.
Konkret: Vor knapp zwei Jahren definierten die Allgemeinmediziner fünf Behandlungen, die es grundsätzlich im ambulanten Bereich zu vermeiden gelte – etwa die Verabreichung von Antibiotika gegen unkomplizierte Infekte der oberen Luftwege oder Röntgen bei leichten Rückenschmerzen. Das war als Pionierleistung gedacht: Andere medizinische Fachgruppen wie Chirurgen oder Kardiologen sollten nachziehen und eine eigene Liste mit unnützen Behandlungen ihres Fachgebiets erstellen. Und auch die Spitäler sollten für ihren Bereich solch eine Auflistung einführen.
«Frühe Mobilisation im Spital»
Jetzt, zwei Jahre später, kam die nächste «Blacklist» heraus: Es geht um unnötige Behandlungen für den Spitalbereich, erarbeitet von einer Fachgruppe der Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin SGAIM. Das Papier wurde heute offiziell publiziert und gestern schon über
«Tages-Anzeiger» sowie in
«10 vor 10» prominent vorgefeiert – inklusive einem TV-Auftritt von Christoph A. Meier, dem Leiter der Fachgruppe und Medizinischen Leiter des Universitätsspitals Basel.
Fünf Massnahmen sollen danach in den Schweizer Spitälern künftig vermieden werden, weil sie für die Patienten entweder keine Vorteile oder gar Nachteile bieten.
Laut der «Top 5»-Liste sollen die Schweizer Spitalärzte künftig:
- keine umfangreichen Blut- oder Röntgenuntersuchungen in regelmässigen Abständen ohne klinisch spezifische Fragestellung verordnen;
- keine Dauerkatheter bei Inkontinenz legen oder liegen lassen, wenn dies nur dem Komfort oder zur Überwachung des Urinvolumens bei nicht-kritisch kranken Patienten dient;
- keine Transfusion von mehr als der minimal benötigten Menge Erythrozyten-Konzentrate verordnen, um Anämiesymptome zu lindern oder einen sicheren Hämoglobinwert zu erreichen;
- ältere Menschen während des Spitalaufenthalts nicht zu lange im Bett liegen lassen;
- älteren Menschen als erste Wahl keine Schlaf- und Beruhigungsmittel verabreichen und das Rezeptieren solcher Medikamente bei Spitalaustritt vermeiden.
«Eine unserer wichtigsten Empfehlungen vor allem für ältere Patienten scheint uns die frühe Mobilisation im Spital zu sein», sagte Christoph A. Meier bei der
Präsentation in Basel. «Diese soll dem raschen Verlust an Muskelkraft und Gangsicherheit vorbeugen und es den Patienten erleichtern, nach der Hospitalisation bald wieder so autonom wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld leben zu können.»
Besonders verblüffend ist die Auswahl nicht. Die Liste der SGAIM ist das Echo einer ganz ähnlichen Liste, welche die Poliklinik des Berner Inselspital bereits befolgt, und die meisten Punkte finden sich auch auf den «Choosing Wisely»-Listen andere Länder
(hier etwa die Auswahl der entsprechenden Kampagne in Kanada). Christoph A. Meier bestätigte im «10 vor 10»-Interview selber, dass die Empfehlungen etwa in den USA seit einem Jahrzehnt bekannt sind.
«Less is not less money»
Obendrein ist die Auswahl ökonomisch irrelevant. Christoph A. Meier stellte am Fernsehen denn auch klar, dass es hier voll und ganz um die Patienten geht: «Wir haben die Liste gemacht, um das Patientenwohl zu fördern, und nicht um Kosten zu senken.»
Dass die «Choosing Wisely»-Listen auch ein Hebel sind, um die Gesundheitsausgaben zu dämpfen, erscheint tatsächlich nicht als Aspekt der neuen SGAIM-Liste. Dabei hatte Gesundheitsminister Alain Berset selber hier einen Schwerpunkt seiner gesundheitspolitischen Steuerungs-Arbeit gelegt – zuletzt bei einer Tagung unter dem Titel
«Less is more» in Bern. Berset stellte dabei klar, dass der Abbau von Überversorung für ihn ein wichtiger Hebel zur Ersparnis ist; dazu aber müssten die Anreize verändert werden, so der
Bundesrat bei seinem Auftritt im Februar.
Und was ist mit MRI?
Die fünf Vorschläge, welche die SGAIM heute präsentierte, sind dafür aber kaum von Gewicht, und das hat nicht nur mit dem Fallpauschalen-System zu tun. Wer will, kann sie mit den «Choosing Wisely»-Blacklist von angelsächsischen Ärzteverbänden vergleichen, die beispielsweise weniger präoperative Tests bei Standardeingriffen fordern, die überhaupt eine ganze Reihe von Tests zur Abschaffung freigeben oder die auch konkrete Vorschläge für einen Mindereinsatz von MRI-Geräten bieten
(die komplette Liste aller US-Ärztegesellschaften findet sich hier).Oder anders: Jene Listen sind nicht nur oft umfangreicher, sondern oft auch direkt kostenrelevanter.
Doch daraus kann man der SGAIM keinen Vorwurf machen, denn letztlich sind die Polikliniken ohnehin kein Hort kostenintensiver Luxusbehandlungen. Und so lautet die entscheidende Frage: Wo sind die Listen der Spezialärzte?
Die Frage der Hausaufgaben
Diese Frage hatte die Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW im Januar auch schon gestellt: «Da haben vielleicht die ärztlichen Fachgesellschaften ihre Hausaufgaben nicht gemacht», stellte
Hermann Amstad von der SAMW damals fest.
Die Organisation wollte wissen, warum die Spezialärzte nichts unternommen haben, und startete eine Umfrage. Heraus kamen drei Gründe:
- Die Erstellung einer schwarzen Liste ist mit einem gewissen Aufwand verbunden.
- Womöglich bestehen Ängste, wie Patienten auf eine solche Liste reagieren.
- Womöglich besteht eine Angst bezüglich Einkommenseinbussen.
Wobei man den letzten Punkt als Hinweis auf die von Alain Berset erwähnten Fehlanreize lesen kann. Die SAMW, so gab Amstad damals bekannt, unternimmt jetzt einen neuen Versuch, die Spezialärzte zu überzeugen. Sie sollen prüfen, ob sie analoge Listen aus den USA übernehmen könnten.