Vor 125 Jahren machten europäische Ärzte erste Versuche, Krebstumore mit Röntgenstrahlen zu behandeln. «Radiologische Operation» wurde die Bestrahlung damals genannt.
Zuerst völlig ungeschützt
Einer der Pioniere war der Pariser Arzt und Radiologe Georges Chicotot, der auf dem Bild oben zu sehen ist. Wir können uns heute angesichts dieser Szene nur wundern, wie völlig ungeschützt sich sowohl der Arzt als auch die Patientin der Strahlung aussetzten.
Chicotot regulierte damals mit einem Gasbrenner die Stromspannung in der grün strahlenden Röntgenlampe. Diese ist auf einem Gelenkfuss montiert. An der Wand ist ein Möbelstück mit Kontrollleuchten zu sehen. Mit seiner Taschenuhr mass der Arzt die Belichtungszeit. Die ersten Bestrahlungen dauerten noch 30 Minuten.
Viele Röntgenärzte starben
In jener Zeit erkannte man zwar schnell, dass die Strahlen Hautentzündungen und Haarausfall verursachten und verkürzte die Belichtungszeit massiv. Doch erst später wurde den Anwendern bewusst, dass die Strahlen auch an schwerwiegenden Langzeitschäden schuld waren, die bis hin zum Tod vieler Röntgenärzte reichten.
Zwar veröffentlichte Chicotos Kollege, der Kinderarzt und Radiologe Antoine Béclère, bereits 1904 Tipps, wie Ärzte und Patienten gegen die schädlichen Folgen der neuen Strahlung geschützt werden könnten.
Erst 1922 erste Strahlenschutz-Vorschriften
Doch mit Blei gefütterte Paravents und Kabinen, die Schutzschürzen, Schutzbrillen und Schutzhandschuhe tauchten erstmals in Deutschland auf. Und erst 1922 waren sie vorgeschrieben. Wie viele andere Radiologen starb Chicotot im Alter von 56 Jahren an den Folgen von Strahlenschäden.
Im Bild fällt ein weiteres Detail auf: Georges Chicotot trug bei der Arbeit einen Zylinderhut. Es war ein Erkennungszeichen seiner Eigenschaft als «Chef» in einer Zeit, in der aus hygienischen Gründen alle Ärzte weisse Kittel trugen.
Der Arzt malte sich selber
Die Patientin scheint zu schlafen - jedenfalls wird deutlich, dass das Ölbild vor allem die ärztliche Tätigkeit in den Vordergrund rücken soll. Was auch kein Wunder ist: Denn das Bild ist ein Selbstbildnis von Georges Chicotot.
Auch das ist aus heutiger Sicht bemerkenswert: Chicotot studierte an der Kunsthochschule und begeisterte sich für Anatomie, Malerei und Zeichnen. Er beschloss deshalb, Medizin zu studieren und gleichzeitig seine Tätigkeit als Maler fortzusetzen. Nachdem er 1899 seine Doktorarbeit verteidigt hatte, begann er im Broca-Spital in Paris zu arbeiten, wo er 1908 Laborleiter wurde. Trotzdem widmete er sich weiterhin auch der Malerei.
Dokumente für die Zukunft
Seine Ölbilder bieten heute ein Stück Medizingeschichte aus künstlerischer Sicht. Er malte mit der Genauigkeit eines Wissenschaftlers und wollte bewusst eine getreue Darstellung geben, um «Dokumente für die Zukunft» zu hinterlassen. Es seien nicht Bilder für einen mondänen Salon, sagte er. Die Darstellungen, in denen er selbst gerne die Hauptfigur war, sind heute ein interessantes Zeugnis für die Entstehung der Strahlentherapie.
So sieht Strahlentherapie heute aus. | Kantonsspital Baselland
Nach Röntgens Entdeckung waren die Ärzte begeistert
Im November 1895 entdeckte der Physiker Conrad Röntgen die Röntgenstrahlen. Kaum ein Jahr später versuchten Ärzte bereits, die Strahlen medizinisch zu nutzen. 1896 wurden in ganz Europa und in den USA Hunderte von Röntgenapparate in Betrieb genommen.
Neue Möglichkeiten für die Diagnose
Die Strahlen, mit denen man in das Innere von lebenden Körpern sehen konnte, beflügelten die Neugier der Ärzte. Denn für die klinische Medizin des 19. Jahrhunderts galt: Sehen heisst verstehen. Die Durchleuchtung und das Röntgen eröffneten plötzlich neue Perspektiven für die Diagnose: sofort, sicher und genau. Doch auch die Eigenschaft dieser Strahlen, krankes Gewebe zu zerstören, wurde schnell für therapeutische Zwecke genutzt, insbesondere gegen Krebstumore.
Georges Chicotot malte sich auch, wie er in seinem Labor experimentierte. | Selbstbildnis 1900