Warum das Alter wenig über den Gesundheitszustand aussagt

Die mentale Verfassung hat einen grösseren Einfluss auf die Gesundheit älterer Menschen als Krebs oder Herzprobleme. Dies zeigt eine gross angelegte US-Studie. Die Wissenschaftler machen sich nun für eine Neudefinition des Gesundheitsbegriffs stark.

, 17. Mai 2016 um 14:24
image
  • forschung
  • studie
  • praxis
  • geriatrie
Ärzte neigen dazu, ihre Patienten mit der biomedizinischen Checkliste zu erfassen: Mit 50 bricht die Zeit für Krebs, Herzprobleme und Diabetes an, mit 70 werden Knochenbrüche zum Thema.
Dieser Ansatz lässt ausser acht, dass Gesundheit und Wohlbefinden mehr sind als die Abwesenheit von Krankheit. Schliesslich gibt es rüstige 70jährige und gebrechliche 50jährige. Dass das chronologische Alter nicht mit dem biologischen übereinstimmt, ist bei den meisten Menschen offensichtlich.  

Mentale Verfassung beeinflusst Sterberisiko

Wie diese Unterschiede zustande kommen, darüber weiss man freilich noch wenig. Eine neue Studie der University of Chicago liefert nun Erkenntnisse über die Faktoren, die zu einem langen, gesunden Leben führen. Sie wurden im Fachjournal Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America (PNAS) publiziert und sorgen in den USA für viel Publizität. 
Gemäss der Studie sagen Faktoren wie die mentale Verfassung, Einsamkeit, Mobilität sowie Seh- und Hörvermögen mehr über den Gesundheitszustand und das Sterberisiko eines Menschen aus als die herkömmlichen Kriterien wie Krebs, Blutdruck oder Cholesterinspiegel. Vor allem der Einfluss der mentalen Verfassung auf die körperliche Gesundheit wurde bislang massiv unterschätzt.

«Mensch ist ein Mosaik»

Das chronologische Alter spielte praktisch keine Rolle in der Beurteilung der Gesundheit. Die Wissenschaftler streben darum eine Neudefinition des Gesundheitsbegriffs an - von einer rein medizinischen hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung.  
«Der Mensch ist ein Mosaik», sagt die führende Autorin Martha McClintock, Psychologieprofessorin der University of Chicago. «Um sich ein Bild eines Gesundheitszustands zu machen, müssen alle Teile zusammen angeschaut werden.» 
Martha McClintock, William Dale, Edward Laumann, Linda Waite et al: «Empirical redefinition of comprehensive health and well-being in the older adults of the United States», in: «Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America» (PNAS), 16. Mai 2016

Daten von 3'000 Amerikanern analysiert

Dies tat sie für ihre Forschungsarbeit: McClintock erweiterte herkömmliche medizinische Messmethoden um mentale, psychische, funktionale und sinnliche Faktoren. Insgesamt kamen 54 Kriterien zur Anwendung. 
Damit wurde während fünf Jahren eine repräsentative Auswahl von 3'000 Amerikanerinnen und Amerikanern zwischen 57 und 85 Jahren analysiert. Interessanterweise waren die Menschen, die sich als die gesündesten herausstellten, die schwersten; auch hatten sie einen höheren Blutdruck. Gleichzeitig hatten sie weniger spezifische Leiden und waren mobiler. Seh- und Hörvermögen waren intakt, die mentale Verfassung gut. 

Knochenbrüche ab 45 erhöhen das Sterberisiko

Weniger gesund waren die Menschen mit normalem Gewicht und ohne Herzprobleme, die allerdings mindestens ein spezifisches Leiden wie ein Magengeschwür hatten. Ihr Sterberisiko war doppelt so hoch wie das der gesünderen Gruppe. Der schlechteste Gesundheitszustand wurde bei den Menschen mit Bewegungsmangel und schlechter seelischer Verfassung diagnostiziert. Auch Knochenbrüche ab 45, so eine weitere Erkenntnis, erhöhen das Sterberrisiko. 

Ärzte sollten Patienten ganzheitlich beurteilen

McClintock schliesst daraus, dass Ärzte besonders bei der Behandlung von älteren Menschen nicht nur die physische, sondern auch die psychische Gesundheit im Auge haben sollten. Sie sollten die Patienten dazu auffordern, über Beeinträchtigungen des Hör- und Sehvermögens, psychische Störungen oder Dinge wie Einsamkeit zu sprechen.
(Bild: Flickr CC)
Siehe auch:
«Your Age Isn't the Best Predictor of Your Health» - in: «Time Magazine», 16. Mai 2016
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Notfallpauschalen: FMH und Prio.Swiss haben eine Lösung

Einerseits sollen angestellte Ärztinnen und Ärzte die Zuschläge ebenfalls erhalten. Andererseits fahnden die Krankenkassen nach Fällen, wo aus den Inkonvenienzpauschalen ein Business gemacht wird.

image

Swiss Medical Network weiter auf Einkaufstour

Letzte Woche das Spital Zofingen, diese Woche drei neue Hausarztpraxen: Swiss Medical Network wächst weiter.

image

Notfall-Pauschalen: Swiss MediKids findet einen Ausweg

Nach dem Bundesgerichts-Urteil sichert sich die Praxisgruppe die Zukunft dank Abkommen mit grossen Kassen: Diese decken 70 Prozent der ausfallenden Notfallpauschalen.

image

Und noch ein Notfall steht auf der Kippe

Im Hausarzt-Notfall Seeland haben über ein Viertel der Ärzte gekündigt – «aus Frustration».

image

Notfallpauschalen: Politiker machen Druck auf Versicherer

Im Ständerat fordert eine erste Motion höhere Tarife für Notfalleinsätze und Permanencen.

image

Uni Bern: Professur für Klimafolgen & Gesundheit

Damit baut die Universität Bern ihre Forschung an der Schnittstelle von Präventivmedizin und Klimawissenschaften aus.

Vom gleichen Autor

image

Pflege: Zu wenig Zeit für Patienten, zu viele Überstunden

Eine Umfrage des Pflegeberufsverbands SBK legt Schwachpunkte im Pflegealltag offen, die auch Risiken für die Patientensicherheit bergen.

image

Spital Frutigen: Personeller Aderlass in der Gynäkologie

Gleich zwei leitende Gynäkologen verlassen nach kurzer Zeit das Spital.

image

Spitalfinanzierung erhält gute Noten

Der Bundesrat zieht eine positive Bilanz der neuen Spitalfinanzierung. «Ein paar Schwachstellen» hat er dennoch ausgemacht.