Anfang 2022, also vor zweieinhalb Jahren, zählte die Vista-Gruppe 20 Standorte. Im März 2024 kam mit Muttenz und Pratteln der 30. Standort hinzu. Herr Gassner, sind Sie noch nicht satt?
Nein, wir sind nicht satt, aber hungern müssen wir auch nicht. Wir müssen nicht unbedingt weiterwachsen, aber wenn sich eine schöne Gelegenheit ergibt, werden wir gerne unser Netzwerk vergrössern. Wir wollen opportunistisch wachsen.
Haben Sie noch weisse Flecken auf der Landkarte? In der Stadt Bern sind Sie zum Beispiel nicht vertreten.
Im Kanton Bern betreibt die Vista zwei Standorte. Es ist aber tatsächlich eine Region, welche wir gerne noch verdichten möchten.
Warum genau?
Netzwerk-Effekte wirken dann am stärksten, wenn wir in einer Region mehrere Standorte haben.
Netzwerk-Effekte?
Das heisst einerseits, dass wir unser Personal optimal einsetzen können, wenn wir in einer Region über mehrere Standorte verfügen. Das heisst aber auch, dass wir näher an unseren Patienten sein können – und zwar nicht nur für Standarduntersuchungen, sondern auch für komplexere chirurgische Eingriffe. Ein Netzhaut-Chirurg zum Beispiel ist an einem einzigen Standort nicht ausgelastet. Spezialisten müssen an drei oder vier Standorten tätig sein können.
Von Senevita zur Vista
Christoph Gassner stiess im Oktober 2020 als CEO zur «Vista Augenpraxen und Kliniken», die 1989 vom Schweizer Arzt Eduard Haefliger gegründet worden war. Mittlerweile zählt die Gruppe mit Hauptsitz Basel 30 Standorte. Sie gehört zur Veonet-Gruppe mit Sitz in München, dem grössten Netzwerk von Ophthalmologen in Europa. Zuvor wirkte Gassner knappe acht Jahre bei der Pflege- und Altersheimgruppe Senevita, zuerst als CFO, dann für ein Jahr als CEO.
Wie gehen Sie vor, um die angestrebte Verdichtung zu realisieren?
Keine unserer Akquisitionen haben wir aktiv gesucht. Die Augenärzte sind an uns gelangt, häufig um ihre Nachfolge zu regeln. Wenn wir die Chance haben, dass sich weitere Ärzte anschliessen wollen, so schauen wir uns das gerne an.
Zwischen der Schweiz und Deutschland besteht ein grosser Unterschied. Die Schweiz ist überblickbar, der Markt ist ein Zehntel der Grösse Deutschlands. In der medizinischen Community der Schweiz kennt man sich; entsprechend kann ein Finanzinvestor nicht einfach kommen und mit viel Geld einen Markt kaufen. Das funktioniert in der Schweiz nicht. Der zentrale Aspekt hier ist die Reputation – von uns als Firma, aber insbesondere diejenige unserer Ärzte. Die Vista wurde gerade letzte Woche zum zweiten Mal in Folge als «Best Managed Company in Switzerland» ausgezeichnet. Ärztinnen und Ärzte wollen ihr Lebenswerk in gute Hände geben.
Vista kauft ja nicht nur Praxen mit Nachfolgeproblemen. Hegen hierzulande die Ärztinnen und Ärzte nicht die Befürchtung, zu reinen Zulieferern degradiert zu werden?
Das denke ich nicht. Wir kaufen nicht einen Standort und sagen dem bisherigen Besitzer: Jetzt darfst Du den Schlüssel abgeben. Das Ziel besteht darin, mit den Ärztinnen und Ärzten diesen Weg gemeinsam zu bestreiten. Wir sehen das sehr partnerschaftlich.
Aber Augenärzte müssten ja ihre Praxis nicht verkaufen. Sie könnten auch sonst ihrem Netzwerk angehören, oder?
Der grosse Teil der Ärztinnen und Ärzte ist effektiv bei der Vista angestellt. Wir betreiben aber auch Zentren mit Belegarztstrukturen, in denen wir lediglich die Infrastruktur und das nichtärztliche Personal bereitstellen. Wir sind oft in Situationen, bei denen der Arzt seine Nachfolge geregelt haben will. Dann folgt eine Phase von drei bis fünf Jahren, in denen wir zusammenarbeiten und die Ärzte Aktionär bleiben können, wenn sie das wollen.
Aktionär der Vista oder der entsprechenden Praxis?
Der eigenen Praxis. Die meisten Gesellschaften, die sich uns anschliessen, bleiben juristisch eine eigene AG.
Habe ich Sie richtig verstanden: Nicht alle Ärzte, die sich der Vista anschliessen, verkaufen ihre Praxis?
Ja. Unter Umständen genügt es, wenn sie Teil unseres Netzwerks sind. Wir sind eine starke Ausbildungsklinik und bilden eine grosse Anzahl Ophthalmologen und Ophthalmochirurgen aus. Idealerweise bleiben diese nach Ihrer Ausbildung bei uns. Manchmal aber wollen sie sich selbstständig machen, bleiben aber unserem Netzwerk als Zuweiser, Partner, Second-Opinior oder Belegarzt erhalten. Wir suchen die Partnerschaft. Das ist der einzige Weg, der funktioniert.
Vista gehört der deutschen Veonet, die bis vor zwei Jahren der schwedischen Private-Equity-Gesellschaft Nordic Capital gehörte. Was hat sich bei Vista verändert, seit Veonet nun neue Besitzer hat?
Davon merken wir eigentlich nichts. Ich kann nur sagen, dass die neuen Besitzverhältnisse für uns ideal sind. Wir haben zwei Investoren, die je 50 Prozent des Kapitals besitzen: Die französische Private-Equity-Gesellschaft PAI ist eher kurzfristig orientiert und zwingt uns als Leistungserbringer, rasch die richtigen Themen anzugehen. Die OTPP, die Pensionskasse der kanadischen Lehrer, ist ein äusserst langfristig orientierter Investor, der dafür sorgt, dass der langfristige Erfolg im Fokus ist. Damit meine ich im wesentlichen unsere medizinische Reputation bei Patienten und Ärzten.
Wo liegen konkret die Vorteile eines internationalen Netzwerks?
Wir sind derzeit in fünf Ländern unterwegs, die völlig unterschiedlich reguliert sind. Entsprechend unterschiedlich sind die Herausforderungen. Positive Aspekte der internationalen Zusammenarbeit liegen zum Beispiel im Einkauf: Die Firmen, von denen wir Linsen-Implantate und medizinaltechnische Geräte beziehen, sind Weltkonzerne. Dank unserer Grösse und den vielen Vertretungen in mehreren Ländern Europas haben wir sicherlich Vorteile bei Preisverhandlungen.
Preisvorteile im Einkauf? Ist das alles?
Auch im Bereich des medizinischen Austauschs sowie der Aus- und Weiterbildung ergeben sich dank der internationalen Kooperation wesentliche Vorteile. Sei es über privilegierte Zugänge zu Fellowships und Kongressen – etwa dem DOC in München oder dem ESCRS-Kongress, der Anfang September in Barcelona stattfinden wird. Wir haben in der Gruppe für jede Subdisziplin der Ophthalmologie international zusammengesetzte Fachgruppen mit Ärzten aller Länder, welche sich regelmässig austauschen. So zum Beispiel für Glaukomchirurgie oder Strabologie.
Die Entwicklung der Vista ist interessant. Mindestens so interessant ist die Entwicklung der Branche insgesamt. Was macht der Augenarzt in zehn Jahren anders als heute?
Die Ophthalmologie ist eine sehr technologielastige Medizin, wie zum Beispiel auch die Radiologie. In beiden Disziplinen ist die Bildgebung wichtig. Deshalb hat der technologische Fortschritt einen sehr grossen Impact auf unsere Branche.
Korrigieren Sie mich: 3d-Bilder des Augeninneren können wir schon heute mit dem Handy machen.
Es gibt erste solche Applikationen, ja. Aber noch muss der Augenarzt die Bilder begutachten und eine Diagnose erstellen. Disruptiv wird es werden, wenn diese Daten global in einer sehr grossen Anzahl zur Verfügung stehen und mit Künstlicher Intelligenz interpretiert werden.
Stichwort KI: Wie stark wird sie die Ophthalmologie verändern?
Ich denke, KI wird unsere Arbeit insbesondere bei der Diagnostik wesentlich verändern. Ein Beispiel: Fundusfotografien – Fotos der Netzhaut – macht man schon seit über 100 Jahren. Aufgrund des Bildes stellt der Arzt eine Diagnose. Er hat Erfahrung, weil er in seinem Leben tausende von Bildern der Netzhaut gesehen hat. Doch KI wird auf einen Schlag Zugriff auf Millionen solcher Bilder haben und entsprechend wohl eine schnellere und präzisere Befundung liefern können.
Noch haben wir in der Schweiz einen Fachkräftemangel. Wieweit werden Technologie und KI diesen beheben?
Ich denke, der technologische Fortschritt entlastet in einem ersten Schritt vor allem den konservativen Augenarzt, der keine chirurgischen Eingriffe macht. Aber der Fachkräftemangel wird sich trotz der zunehmenden Automatisierung und fortschreitenden Technologie verschärfen.
Warum?
Wir sind ja eigentlich im geriatrischen Bereich aktiv. Augenerkrankungen kommen häufig im Alter vor. Denken Sie an die Alterssichtigkeit, an den grauen Star oder an die Makuladegeneration. Das sind oft Alterserscheinungen. Mit dem demografischen Wandel wird die Nachfrage nach ophthalmologischen Eingriffen in den nächsten Jahrzehnten weiter zunehmen. Gleichzeitig mit dem Baby-Boomer-Effekt stehen viele Augenärzte vor der Pension.
Aber wird nicht der technologische Forschritt den Fachkräftemangel entschärfen?
Das allein wird nicht ausreichen. Im Übrigen fehlt es ja nicht nur an Ärztinnen und Ärzten, sondern auch an nichtärztlichen Fachleuten. Und schliesslich müsste sich der technologische Fortschritt auch im KVG niederschlagen. Sonst werden Ärzte nicht entlastet.
Was meinen Sie konkret?
Nehmen Sie als Beispiel intravitreale Injektionen zur Behandlung von Makuladegeneration. Diese Patienten kommen alle vier bis sechs Wochen zum Arzt, der ihnen ein Medikament spritzt. In der Schweiz muss diese Spritze durch einen Arzt verabreicht werden, im nahen Ausland kann das auch nichtärztliches Personal erledigen.