«Die Situation in der Physiotherapie ist dramatisch. Es brennt», sagt Physiotherapeut Reto Meier* und zeichnet ein düsteres Bild: «Wenn sich an der Tarifsituation nichts ändert, wird ein ganzer Berufsstand zerstört.»
Ein Jahr ist es her, seit die Physiotherapeuten in Bern auf die Strasse gingen. Rund 10'000 kamen damals auf dem Bundesplatz zusammen und überreichten der Bundeskanzlei 283'000 Petitionsunterschriften gegen den Tarifeingriff. Passiert ist seither wenig – «im Gegenteil», sagt Meier: «Tariflich hat sich nichts verbessert, stattdessen steigen die Anforderungen und die Administration.» Zudem tobe ein heftiger Konflikt mit den Krankenkassen.
30 Jahre ohne Tarifsteigerung
Laut Physioswiss verharren die Tarife seit drei Jahrzehnten auf einem praktisch unveränderten Niveau. Die durchschnittliche Vergütung von 68 Franken pro Stunde deckt Miete, Altersvorsorge und Löhne nur knapp. Hinzu kommt, dass über 15 Prozent der Leistungen gar nicht abgerechnet werden können – so die Berechnung des Verbands Physioswiss.
«Die Fälle werden immer komplexer, während der bürokratische Aufwand durch Versicherungen und Behörden zunimmt», erklärt Meier. «Jetzt möchte man die Kosten auf dem Buckel der Physiotherapie senken.» Diese Entwicklungen gefährden zunehmend die Versorgungssicherheit.
«Raus aus dem Beruf» sei für viele derzeit die einzige Option – und das in einer Zeit, in der der Bedarf an Physiotherapeuten stetig steigt. Die Zahl ärztlicher Verordnungen nimmt seit Jahren kontinuierlich zu.
«Neben der prekären finanziellen Situation sieht sich die Branche zunehmend mit einem akuten Fachkräftemangel konfrontiert»,
sagte Osman Bešić, der Geschäftsführer von Physioswiss, zum Jahrestag der Branchendemo: «Diese Problematik verschärft sich weiter, da die Zahl der ärztlichen Verordnungen für Physiotherapie in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist.»
Krankenkassen im Fokus
Und genau das ist den Krankenkassen ein Dorn im Auge: Für sie ist die Physiotherapie mitschuldig am Anstieg der Gesundheitskosten. Seit Jahren werfen sich Kassen und Physiotherapeuten gegenseitig vor, die Verhandlungen über einen neuen Tarif zu blockieren.
«Das ist ein Witz, im gesamten Gesundheitssystem generiert die Physiotherapie Kosten von 3,6 Prozent – im Gegensatz zu den Verwaltungskosten der Krankenkassen, die fast 6 Prozent betragen», so Meier.
Meier spricht von subtiler Schikane seitens der Versicherungen: «Abrechnungen werden bis ins kleinste Detail überprüft, und selbst kleine Fehler können mit hohen Bussen geahndet werden.» Die Krankenkassen nützten Unklarheiten im Tarifvertrag aus, um Praxen unter Druck zu setzen. Für viele Therapeuten geht es dabei um die Existenz. «Die Kräfteverhältnisse sind asymmetrisch, und das wird ausgenutzt, um Unsicherheit und Angst zu schüren», ist Meier überzeugt.
Unsichere Zukunft
Die Hoffnung auf Besserung bleibt gering. Die Lage ist unsicher. Einerseits verhandeln die Tarifpartner über die Tarifstruktur, die durch den bundesrätlichen Eingriff im August 2023 notwendig wurde. Hier müssen bis Mai 2025 Resultate vorliegen. Andererseits verhandeln die mehr oder weniger gleichen Partner über den Preis für physiotherapeutische Leistungen, weil Physioswiss die Tarifverträge auf Ende 2024 gekündigt hat.
Sollten sich die Ideen der Krankenkassen politisch durchsetzen, drohen neben finanziellen Einbussen auch verkürzte Behandlungszeiten. «Das wird die Behandlungsqualität und die Zufriedenheit von Patienten und Therapeuten weiter verschlechtern», warnt Meier.
Der Berufsausstieg vieler Physiotherapeuten würde den Fachkräftemangel verschärfen – mit teuren Konsequenzen. Patienten wären gezwungen, auf weniger wirksame und deutlich teurere Alternativen auszuweichen.
«Die Physiotherapie hilft vielen Menschen und spart langfristig Geld im Gesundheitssystem. Es kann nicht sein, dass dies nicht angemessen vergütet wird», mahnt Meier.
Hintergrund
Mitte August 2023 schickte der Bundesrat einen Vorschlag zur Anpassung der Tarifstruktur für physiotherapeutische Leistungen in die Vernehmlassung. Der geplante Eingriff stiess sowohl bei den Physiotherapeuten wie auch in der Bevölkerung auf Unverständnis. So versammelten sich zum Ende der Vernehmlassungsfrist am 17. November 2023 rund 10'000 Personen zu einer Kundgebung auf dem Bundesplatz.
Der Bundeskanzlei wurden gleichentags 283’000 Unterschriften einer Petition eingereicht. Im Frühjahr 2024 entschied der Bundesrat, vom Eingriff in die Tarifstruktur für die physiotherapeutischen Leistungen abzusehen und räumte den Tarifpartnern – Physioswiss, H+ sowie den Krankenkassenverbänden Santésuisse und Curafutura – Zeit ein, neue Verträge auszuhandeln.
Zurzeit laufen bei Physioswiss vier verschiedene Tarifverhandlungen. Neben den Tarifstrukturverhandlungen mit den Krankenversicherern, laufen die Taxpunktwertverhandlungen mit den drei Einkaufsgemeinschaften der Krankenversicherer (CSS, HSK, tarifsuisse).
*Weil auch er Konsequenzen der Krankenkassen fürchtet, möchte Reto Meier nicht mit seinem echten Namen in Erscheinung treten.