«Bis jetzt hat nur der Kanton Zürich den Hebammen den roten Teppich ausgelegt»

Im Mai findet der Schweizerische Hebammenkongresses mit dem Titel «Hebammen in Krisensituationen» statt. Was hinter dem schweren Titel steckt, erklärt Andrea Weber-Käser, Geschäftsführerin des Berufsverbands SHV.

, 23. März 2023 um 06:00
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Andrea Weber-Käser ist die Geschäftsführerin des Schweizerischen Hebammenverbands (SHV).

Frau Weber, Ihre Tätigkeit zählt zu den ältesten Frauenberufen der Welt. Ist die Bezeichnung Hebamme nicht etwas verstaubt, wenn man den Beruf jungen Frauen schmackhaft machen will?

Das ist sie nicht – genauso wenig wie der Beruf und das Interesse an ihm. Es wollen immer noch viele junge Menschen in die Ausbildung und Hebammen sind nach wie vor sehr gefragt – sowohl im stationären wie ambulanten Sektor.

Ist der Beruf immer noch ausschliesslich Frauen vorbehalten?

Es gibt auch wenige Männer, die den Beruf ausüben und im Verband sind; in der Romandie etwas mehr als in der Deutschschweiz. Auch hier hat sich nicht viel an der Bezeichnung geändert. Hierzulande werden sie als männliche Hebamme oder die Hebamme bezeichnet. Sehr schön gelöst haben es die französischsprachigen Länder, so auch die Romandie mit «sage-femme», die weise Frau, oder «homme-sage-femme». Ich finde es schön, dass auch Männer in diese Gefilde vordringen.

Etwas weniger schön klingt «Hebammen in Krisensituationen». So lautet der Titel des zweitägigen Schweizerischen Hebammenkongresses im Mai. Weshalb ein derart schwer anmutender Titel?

Der Hebammenverband hat Ende 2021 mit den Vorbereitungen für den Kongress begonnen. Zu der Zeit schlug die Pandemie immer noch ihre Wellen. Der Kongresstitel bezieht sich aber nicht nur auf die Herausforderungen während der Coronakrise. Wir sind mit vielen anderen Krisen konfrontiert. Die meisten Problemfelder sind älter und haben sich in den letzten Jahren zugespitzt, teils auch während der Pandemie. Diese Krisen wollen wir am Kongress thematisieren. Gleichzeitig zeigen wir auf, welche Lösungsansätze es gibt und welche wir weiterverfolgen wollen. Krisen bieten immer auch eine Chance zur Veränderung.

Veränderungen erzielen will der Verband auch hinsichtlich der Pandemie. Inwiefern hat diese Spuren hinterlassen?

Bis die Kantone auf unsere Anliegen reagierten, dauerte es mehr als ein halbes Jahr! Das war ein schlimmer Moment, der bis heute nachhallt. Zahlreiche Berufsgattungen, die im Gesundheitsberufsgesetzt geregelt sind, waren nicht in den Pandemieplänen der Kantone integriert. Während Hausärzte oder die Spitex mit Schutzmaterial wie Schutzmasken und Desinfektionsmittel beliefert wurden, standen wir Hebammen vor dem Nichts. Das löste bei allen Beteiligten grosse Angst aus.

Das ist nun über zwei Jahre her. Was hat der Verband daraus gelernt?

Die Pandemie war für alle eine grosse Herausforderung, weshalb vieles nicht richtig funktioniert hat. Das muss sich ändern, damit wir bereit sind, sollte es jemals wieder zu einer solchen Situation kommen. Was einfach klingt, ist jedoch eine Herkulesaufgabe.

Eine Herkulesaufgabe: inwiefern?

Es dauerte trotz allen Bemühungen zwei Jahre, bis wir von den Behörden «gesehen» wurden. Inzwischen werden wir an Workshops eingeladen. Weiter wurde uns versprochen, dass wir bei den Pandemieplänen berücksichtig werden – mindestens auf Bundesebene wird dies nun Realität. Der zweite wichtige Schritt muss die Integration in die kantonalen Pläne sein. Wir wollen niemals wieder auf allen Ebenen vergessen werden. Deshalb muss jede Sektion des Verbandes aktiv bleiben, was mit sehr viel Aufwand verbunden ist und uns sicherlich noch rund drei Jahre beschäftigen wird.

Der Verband hat noch andere politischen Anliegen, zum Beipsiel die Förderung der nachhaltigen Geburt. Am Kongress werden die Vorstösse im Kantonsparlament vorgestellt.

Der Hebammenverband setzt sich dafür ein, dass die Arbeitsbedingungen in den Spitälern im Zuge der Pflegeinitiative, die wir ideell und finanziell mitunterstützten, verbessert werden. So unterstützt der Verband aktuell eine Arbeitsgruppe von Spitalhebammen aus dem Kanton Zürich, die eine Petition für faire Pikett- und Überzeitenentschädigungen lancieren möchten.

Dieses Projekt wird vom Verband finanziell, personell und juristisch unterstützt mit welchem Ziel?

Ziel ist es, die Petition auch in den anderen Kantonen bekannt zu machen. Darüber hinaus fordern wir, dass die nachhaltige Geburtshilfe politisch in den Kantonen verankert wird – wie am Beispiel Zürich. Als bisher einziger Kanton hat Zürich den Hebammen den roten Teppich ausgelegt. Dieses Setting wollen wir in andere Kantone bringen.

Das klingt schön, doch der Weg dorthin war wohl schwierig ...

Dem Erfolg im Kanton Zürich ging ein langer und steiniger Weg der Aufklärungs-, Netzwerk und Kommunikationsarbeit voraus. Da stehen die anderen Kantone erst am Anfang. Um die Sektionsverantwortlichen mit Knowhow bei der politischen Arbeit in ihren Kantonen zu unterstützen, ist die Zusammenarbeit mit der Interessengemeinschaft für nachhaltige Geburtshilfe (IGnGH) sehr wichtig.

Was sind die Hauptanliegen in Sachen nachhaltige Geburt?

Die Hebammen sollen alle ihre erlernten Kompetenzen anwenden können. Leider ist das seit vielen Jahren nicht mehr möglich, weil die meisten ärztlichen Leitungen der Spitäler es nicht mehr zulassen. Oft muss eine Hebamme drei oder vier Gebärende gleichzeitig betreuen und kann überhaupt nicht auf die einzelnen Bedürfnisse eingehen. Dadurch verliert der Beruf an Attraktivität.

Ein Problem mit drastischen Folgen ...

Wie in der Pflege verlassen rund 30 bis 40 Prozent ihr Berufsfeld in den ersten fünf bis zehn Jahren! Mit der nachhaltigen Geburt wollen wir ein Setting schaffen, das für die Gebärende, die Hebamme aber auch für das Spital einen Mehrwert bringt.

Diese Ausstiegsrate ist hoch. Sie sagten eingangs, es fehle nicht an Nachwuchs. Bahnt sich trotzdem ein Fachkräftemangel an?

Das ist leider so. Im Gegensatz zur Pflege, kämpfen wir zwar nicht mit Nachwuchsproblemen. An allen vier Fachhochschulstandorten fahren die Schulen ihre Studienplätzen sogar hoch. Doch leider bringt das alles nichts, wenn die Spitäler keine Ausbildungsplätze anbieten und zusätzlich im ambulanten Sektor keine Praktikumsplätze vorhanden sind. Um alle Kompetenzen im Bereich der Geburts- und Wochenbettbetreuung kennen zu lernen, müssen die Studierenden unbedingt auch Praktikas im ambulanten Sektor absolvieren können. Die mittlere Verweildauer beispielsweise von Wöchnerinnen im Spital beträgt noch drei Tage.

Finanzieren die Kantone im ambulanten Sektor keine Praktikumsplätze?

Es gibt nur sehr wenige Kantone, die das tun. Bietet eine Hebamme einer Studierenden ein Praktikum an, erhalten beide meist keinen einzigen Franken Unterstützung. Ein wichtiges Anliegen der Fachhochschulen und des Verbandes ist es deshalb, die Anzahl der Praktikumsplätze in beiden Sektoren zu erhöhen. Dies geht aber nur, wenn man auch die Anzahl der Ausbildungsverantwortlichen, welche die Studierenden betreuen, erhöht. Das ist nicht gratis zu haben! Wer soll das Ganze finanzieren?

Weshalb funktioniert es mit der Finanzierung bisher nicht?

Diese Leistung ist im ambulanten Sektor nicht in den ambulanten Tarifstrukturverträgen der Gesundheitsberufe enthalten. Die Problematik in den Spitälern ist, dass die Leistung der Ausbildungsverantwortlichen nicht genügend in der DRG-Pauschalen abgebildet ist. Um Berufsbildende auszulernen, müssten höhere DRG-Pauschalen verhandelt werden. Alternativ könnte der Kanton auch Direktzahlungen an die Anbieter von Praktikaplätzen andenken, um den Prozess zu beschleunigen. Nur so könnten mehr Praktikumsplätze geschaffen werden.

Ein Teufelskreis …

….und ein hartes Pflaster für den Verband und die Fachhochschulen, weil auch hier alle Verhandlungen von Kanton zu Kanton stattfinden müssen, seit die Angelegenheit vor vielen Jahren auf Bundesebene gescheitert ist. Die Versorgungssicherheit muss gewährleistet sein.

Sie sprechen von einer Absprungrate von 30 bis 40 Prozent. Hat der Verband andere konkrete Zahlen? Wie viele Hebammen gibt es in der Schweiz überhaupt?

Es gibt einzig einen Obsan-Bericht aus dem Jahr 2021, in welchem ein Teil unserer Daten miteinflossen. Ansonsten existieren keine konkreten Datensätze betreffend die Anzahl an Hebammen schweizweit, oder wie viele mit welchem Pensum in den Spitälern und Geburtshäusern jährlich arbeiten. Das Problem: Ohne konkrete Zahlen ist es sehr schwierig, die Versorgungssicherheit für die Zukunft abzuschätzen.

Gibt es Bestrebungen, diese Zahlen zu erheben?

Wir verfolgen dieses Thema mit unserem Lobbyisten. Um diesen Missstand hoffentlich zu beheben, haben wir eine Interpellation formuliert, die im Nationalrat eingereicht wurde. Die Pflege hat übrigens dasselbe Problem wie wir. Ohne diese Daten kann man keine Versorgungslücken abschätzen, keine adäquate Ausbildungsplanung machen etc. Dieser Punkt gehört zu den wichtigsten auf meinem Tisch aktuell.

Wie gross sehen Sie die Chancen, dass sich in nächster Zeit etwas ändern wird?

Das ist schwierig abzuschätzen. Eigentlich müsste es inzwischen allen Verantwortlichen klar sein, dass der Fachkräftemangel, sowohl bei den Hebammen als auch in der Pflege, ohne eine Erhöhung der Praktikaplätze und der Ausbildenden nicht bekämpft werden kann. Meiner Meinung nach reagieren die Kantone zu langsam.

Die Kantone könnten schon in diesem Jahr Gelder sprechen, um Massnahmen zu ergreifen.

Das ist richtig. Der Bund stellt das Geld zumindest für die Pflegeberufe zur Verfügung. Damit die Hebammen in diesem Bereich mitberücksichtigt werden, muss man kantonal vorgehen. Beispielsweise indem die Sektionsverantwortlichen Verbündete in der Politik suchen und auf die Problematik ansprechen. Das sind grosse berufspolitische Arbeiten, die überall noch bevorstehen und allenfalls nicht überall zum Erfolg führen werden.

Zur Person

Andrea Weber ist seit 2017 Geschäftsführerin des Schweizerischen Hebammenverbands (SHV). Zudem hat sie das Präsidium des Vereins Thurgauer Hebammen inne. Aktuell ist sie im Masterstudiengang «Managed Health Care», der ZHAW, School of management and law. Die 51-Jährige arbeitete lange Jahre als Hebamme in eigener fachlicher Verantwortung mit eigener Hebammenpraxis in Kreuzlingen. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Weitere Informationen zum Thema nachhaltige Geburt gibt es hier.
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