«Ich habe die Illusion in die Politik verloren»

Gesundheitsökonom Willy Oggier über Lobbyisten, Mehrfachrollen, Zweiklassenmedizin, Zusatzversicherungen, das Trauerspiel Tardoc und dessen Regisseur Alain Berset.

, 2. März 2023 um 05:00
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Willy Oggier glaubt nicht, dass alle Zentrumsspitäler in der Schweiz too big to fail sind. | cch
Seit 30 Jahren sind Sie im Gesundheitswesen tätig, Herr Oggier. Wie wird man da nicht zum Zyniker? Indem man sich immer wieder neue interessante Gebiete aussucht. Auf der anderen Seite muss ich schon sagen: Man verliert mit der Zeit gewisse Illusionen, die ich vor 25 Jahren noch gehabt habe.
Mehrfachrolle der Kantone; duale Finanzierung; veralteter Tarmed; unterfinanzierte Spitäler; ein nach Steuergeldern rufendes Spital in Aarau; sich bekämpfende Krankenkassenverbände - wo wollen wir anfangen? Eigentlich könnten wir überall anfangen. Ich würde aber auf andere Themen setzen. Heute stehen andere Probleme im Vordergrund.
Zum Beispiel? Dass wir in einer älter werdenden Gesellschaft eine völlig andere Medizin brauchen, um eine gute Gesundheitsversorgung zu bekommen. Über das reden wir viel zu wenig. Das Beharrungsvermögen der Akteure macht mir Sorgen. Ich habe die Illusion verloren, dass die Politik irgendein Problem wird lösen können.
Wer soll die Probleme denn sonst lösen? Ich glaube, dass die Akteure im Kleinen Wege finden und Projekte aufgleisen müssen. Wenn diese dann funktionieren, können sie von anderen kopiert werden.
All die Akteure, all die Verbände sind es doch, die mit ihren Lobbyisten in Bundesbern Politik machen? Das ist das Problem. All die Akteure sind politisiert. Die grossen Verbände müssen immer auf die Hinterletzten Rücksicht nehmen, die sich aber am wenigsten bewegen wollen. Deshalb glaube ich nicht, dass grosse Verbände das Problem lösen werden. Wenn schon werden es kleinere Verbände sein, die die Interessen homogen bündeln können.
Haben Sie ein Beispiel? Ich denke etwa an Penta plus, einer losen Vereinigung der fünf Spitäler in Baden, Winterthur, Chur, Thun und Biel. Das Kantonsspital Baden zum Beispiel spielt im Bereich «Spital at home» eine Vorreiterrolle. Die anderen Spitäler können davon profitieren und prüfen, ob das für sie auch sinnvoll ist. Die Spitäler tauschen sich aus. Zum Beispiel auch in der Frage, wie die Ambulantisierung vorangetrieben werden kann, und was das fürs einzelne Spital bedeutet. Der Versorgungsauftrag wird so im Kleinen verändert und den neuen Gegebenheiten angepasst.
Steht solchen Bemühungen nicht der föderale Staat im Weg? Im Gegenteil. Der Vorteil der Schweiz als föderaler Staat besteht darin, dass ich dadurch Freiraum habe und viele gute Projekte machen kann. Der Nachteil ist natürlich, dass wir keinen guten Leviatan haben, der auf einen Schlag alles verändern könnte.
Die grossen strukturellen Reformen der Krankenversicherung passierten in der Vergangenheit nach rund 80 Jahren. Das Vorgängergesetz des KVG war über 80 Jahre in Kraft, abgesehen von kleineren Teilrevisionen. Und es dauerte nach der Einführung des KVG fast 25 Jahre, bis die Finanzmarktaufsicht gemerkt hat, dass sie bei den Spitalkostenzusatzversicherungen die Mehrleistungen anschauen sollte.
Wenn wir schon beim Thema sind: Finden Sie es gut, dass die Finma bei den Zusatzversicherungen in einen halbwegs funktionierenden Markt eingreift? Es ist Aufgabe der Finma, den Anspruch der Versicherten zu schützen. Hinzu kommt, dass es schwierig bis unmöglich ist, vor allem im Alter die Zusatzversicherung zu wechseln. Wenn nun die Finma genauer hinschaut, wird dadurch das Vertrauen in den Markt gestärkt. Aber auf der anderen Seite ist es schlecht, wenn sie sich bis zum Gehtnichtmehr in Sachen einmischt.
Was sprechen Sie an? Im Gespräch mit Spitälern entsteht der Eindruck, die Finma kommuniziere gegenüber den Krankenversicherern ganz anders als gegenüber den Spitälern.
Wenn Krankenkassen bei den Tarifverhandlungen auf die Vorgaben der Finma hinweisen, so müssen sie sich von den Spitälern sagen lassen: Die Finma hat uns nichts zu sagen. Nein, verschiedene Spitäler sind zur Finma gegangen und mussten feststellen, dass die Finma ihnen etwas anderes erzählt als sie von Krankenversicherern hören. Das ist zwar zum Teil nachvollziehbar, weil die Finma gegenüber den Versicherern mehr Macht hat als gegenüber den Spitälern. Aber es wäre hilfreich, wenn es klarere und einheitliche Botschaften gäbe.
Spitäler sind finanziell von den Einnahmen aus dem Geschäft mit den Zusatzversicherungen abhängig, obschon diese kaum einen Mehrwert generieren. Ich würde dem widersprechen. Als ich in St. Gallen wohnhaft war, habe ich zuerst als Assistent eine Halbprivatversicherung abgeschlossen und später eine Privatversicherung, weil ich die Freiheit wollte, in einem Spital ausserhalb des Kantons behandelt zu werden, ohne mit dem Kantonsarzt in Konflikt zu geraten, der die ausserkantonalen Hospitalisationen steuert. Aus dieser Optik betrachtet ist das ein Mehrwert. Ein zweiter Grund dürfte vor allem in Zukunft relevant sein, wenn der Fachkräftemangel nicht behoben werden kann. Wir werden bei den Wahleingriffen längere Wartezeiten haben. Da ist völlig klar, dass bei Wahleingriffen Patientinnen und Patienten mit einer Privatversicherung vorgezogen werden. Das können wir auch im Ausland beobachten.
Zweiklassenmedizin pur. Der Vorwurf der Zweiklassenmedizin ist völlig falsch. Es gibt immer mindestens zwei Klassen in der Medizin. Die Frage ist nur, auf welchem Niveau die zweite Klasse ist. Würde die erste Klasse in der Schweiz verboten, liessen sich Privilegierte im Ausland behandeln.
Trotzdem: Spitäler sind auf Zusatzversicherungen angewiesen. Das heisst doch, dass der stationäre Bereich mit den Fallpauschalen unterfinanziert ist? Ich würde das so pauschal nicht sagen. Wir haben gewisse DRG's, die eher überfinanziert sind und solche, die eher unterfinanziert sind. Das Problem ist ein anderes: Bei Kurzliegern ist die Abgeltung durch die Fallpauschalen sehr gut. Es behindert die dringend notwendige Ambulantisierung, weil wir im ambulanten Bereich sehr schlechte Tarife haben.
Ein teilstationärer Tarif als Lösung? Bei einer Aufenthaltsdauer von bis zu drei Tagen könnte man sagen: Mir ist bei medizinischer Vertretbarkeit egal, ob der Eingriff ambulant oder stationär erfolgt. Der Preis bleibt gleich. Er ist nicht so hoch wie die DRG, aber deutlich höher als im ambulanten Bereich. So könnte die Ambulantisierung vorangetrieben werden.
Ein leidiges Thema ist auch der Tarmed. Ist der Tardoc besser, falls wir dessen Einführung überhaupt noch erleben? Er ist besser. Aus zwei Gründen: Der Tardoc hat weniger Einzelleistungspositionen als der Tarmed. Und zweitens ist der Tarmed in seiner Struktur nicht mehr brauchbar. Einzelleistungsvergütungs-Strukturen sind in der schnelllebigen Medizin bald überholt. Und wenn man weniger Positionen hat, ist es einfacher, sie zu überarbeiten. Mit dem Tardoc hätte man signalisieren können, dass wir eine moderne Medizin wollen. Man hätte neue Geschäftsmodelle entwickeln können. Dass der Tardoc immer noch nicht genehmigt wurde, ist ein politisches Trauerspiel.
Wer ist der Regisseur dieses Trauerspiels? Bundesrat Alain Berset und mindestens drei seiner Bundesratskollegen.
Ist es nicht so, dass auch Santésuisse und Hplus gegen den Tardoc lobbyierten? Genehmigungsinstanz ist der Bundesrat. Er hätte dessen Einführung beschliessen können.
Zum Problem der Mehrfachrolle der Kantone. Sehen Sie - trotz fehlender Illusion - eine Möglichkeit, dass da mal etwas passiert? Die Mehrfachrolle der Kantone hat verschiedene Gründe. Die Gesundheitsversorgung ist ein sehr hohes Gut. In einer alternden Gesellschaft gilt dies erst recht. In unserer direkten Demokratie werden Regierungsräte vom Volk gewählt - im Unterschied zu Bundesräten und den Kassenbossen. Deshalb will die Mehrheit der Bevölkerung bisher, dass auch sie das Sagen haben. Trotzdem sollte man Rollenkonflikte thematisieren und sich überlegen, welche Rollenkonflikte akzeptabel sind und welche nicht.
Welche sind akzeptabel? Grundsätzlich jene, die die Bevölkerung akzeptiert. Aber es kann doch nicht sein, dass Kantone gemeinwirtschaftliche Leistungen ihren eigenen Spitälern vergeben - ohne öffentliche Ausschreibung. Diese gehören ausgeschrieben.
Was ist die Lösung? Entweder man ist Eigentümer oder man ist Planer. Wobei ich davon ausgehe, dass die Bevölkerung in der Tendenz eher sagen würde, die Planung, also die Versorgungssicherheit ist Sache des Kantons. Im Ausland haben wir hingegen durchaus Beispiele, in denen die staatlichen Instanzen regulieren und die Institutionen selber privat sind. Zum Beispiel in Kanada oder in anderer Form in den Niederlanden.
Und was sagen Sie zum Fall Aarau? Das geht gar nicht, was wir beim Kantonsspital Aarau erleben. Es kann doch nicht sein, dass der Steuerzahler dem Spital Geld hinterher schiesst, nur weil zu teure Spitalprojekte realisiert wurden. Einem Privatspital würde man auch nicht Geld nachschiessen. Die Grundidee der 2012 eingeführten Spitalfinanzierung und der damit verbundenen Spitalliste lautete: keine Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Spital. Es gibt nur noch Listenspitäler und Vertragsspitäler. Meines Erachtens ist dies systemwidrig.
Sind Sie prinzipiell dagegen, dass die öffentliche Hand Spitäler unterstützt? In Graubünden gibt es Gemeinden, die das Defizit ihres Spitals decken. Das ist etwas anderes. In der parlamentarischen Beratung wurde damals Graubünden als Beispiel genannt, in dem gemeinwirtschaftliche Leistungen angebracht sind. Aber in Aarau sprechen wir von einem Zentrumsspital.
Der Kanton Uri zahlt jährlich 3,5 Millionen Franken ans Spital in Altdorf. Das Kantonsspital Uri in Altdorf hat keinen innerkantonalen Mitbewerber. Die Frage der Ungleichbehandlung stellt sich in einem Kanton wie Aargau ganz anders, wo es andere private und öffentliche Spitäler im direkten Wettbewerb gibt. Warum soll beispielsweise das Kantonsspital Baden nicht ebenfalls Geld bekommen wie das Kantonsspital Aarau, wo erstere doch einen guten Job gemacht haben und trotzdem keine Ebitda-Marge von 10 Prozent erreichen? Derjenige, der zu grosszügig baut, soll Geld bekommen. Der andere, der effizienter handelt, soll leer ausgehen. Eine solche Politik lädt geradezu zum Verschwenden ein.
Was jetzt? Das Spital ist doch too big to fail? Das wäre dann noch zu prüfen. Ich glaube nicht, dass alle Zentrumsspitäler in der Schweiz too big to fail sind. Ein Problem der Zentrumsspitäler in der Schweiz liegt doch darin, dass viele davon gerne Unispital spielen wollen. Dabei sind ihre Einzugsgebiete viel zu klein. Hinzu kommt, dass wir im internationalen Vergleich zu viele Unispitäler haben.
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