Betroffene mit seltener Krankheit warnen vor QALY-Bewertung

Patienten fürchten, dass ihnen wegen der Messung von «qualitätskorrigierten Lebensjahren» nützliche Behandlungen verweigert werden.

, 14. Februar 2024 um 15:53
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Wer unter Erythropoietische Protoporphyrie leidet, muss Sonnenlicht meiden. | Freepik
Behandlungen mit teuren Medikamenten werden häufig mit den so genannten «qualitätskorrigierten Lebensjahren» (QALY) bewertet. Damit soll der Nutzen mit Zahlen belegt werden. Doch es gibt Betroffene, die sich gegen solche Zahlen wehren.
In einem Artikel in der Schweizerischen Ärztezeitung melden sich zwei Patienten mit einer sehr seltenen Stoffwechselkrankheit zu Wort. Sie sagen: «QALY diskriminieren Menschen mit seltenen oder chronischen Erkrankungen sowie ältere Personen.»

Beispiel Protoporphyrie

Jasmin Barman-Aksözen und Rocco Falchetto haben Erythropoietische Protoporphyrie. Diese Krankheit führt schon nach wenigen Minuten am Licht zu phototoxischen Verbrennungen der Aderwände und extremen Schmerzen. Die Betroffenen vermeiden deshalb von früher Kindheit an jegliche Exposition mit Sonnenlicht und starken künstlichen Lichtquellen.
Beide Betroffene nehmen das Medikament Afamelanotid, das in der Schweiz zur Zeit über Einzelfallgesuche verfügbar ist. Es beugt den phototoxischen Reaktionen bei dieser Krankheit vor. Zusammen mit Elisabeth I. Minder, Beraterin bei Clinuvel Pharmaceuticals, welche das Medikament Afamelanotid herstellt, kritisieren sie die QALY-Bewertung.

Das Medikament nützt ihnen

Ihnen nütze Afamelanotid: Die Lichttoleranz steige von zehn Minuten auf über drei Stunden. Sie erleben im Alltag weitgehende Schmerzfreiheit.
Doch in England stützt sich das National Institute for Health and Care Excellence (NICE) für die Beurteilung des Medikaments auf Daten zur Lebensqualität. Und NICE kam zum Schluss, dass die Behandlung mit Afamelanotid zusätzliche 0.33 QALY gegenüber keiner Behandlung aufweise – und damit nur einen kleinen Nutzen bringe. Deshalb erhalten EPP-Patienten in England keine Behandlung.

Berechnung zu allgemein

Die Autoren kritisieren die Art, wie Lebensqualität berechnet wird. Weil die QALY-Werte vergleichbar und fair berechnet werden sollen, wird die Lebensqualität mit allgemeinen, krankheitsübergreifenden Fragebögen erfasst. Doch diese seien eben nicht für alle Krankheiten geeignet, sagen die Betroffenen.
Gefragt wird in diesen Fragebögen nach fünf Bereichen:
  • Beweglichkeit,
  • die Möglichkeit für sich selber zu sorgen,
  • alltägliche Tätigkeiten,
  • Schmerzen und Beschwerden,
  • Angst und Niedergeschlagenheit.
Deshalb würden die Bewertungen nicht zum Vergleich taugen, sondern sie benachteiligten sytematisch Menschen, die an seltenen, chronischen oder erst spät im Leben auftretenden Erkrankungen leiden.
Die Autoren kommen zum Schluss: Um den Nutzen von Behandlungen zu beurteilen, sollte man vielmehr den relevanten Personen zuhören – vor allem den betroffenen Patientinnen und Patienten.

So werden QALY berechnet

Qualitätskorrigierte Lebensjahre – auf Englisch quality-adjusted life years oder QALY – bezeichnen folgender Messwert: Lebensdauer und Lebensqualität werden miteinander multipliziert, was die Anzahl an qualitätskorrigierten Lebensjahren ergibt.
Möchte man zwei Therapien miteinander vergleichen, könnten die qualitätskorrigierten Lebensjahre auf diese Weise zeigen, ob zum Beispiel sieben zusätzliche Lebensjahre bei 80 Prozent Lebensqualität oder zehn zusätzliche Lebensjahre bei 50 Prozent Lebensqualität vorzuziehen sind.
Eine gesellschaftlich ermittelte Kostengrenze pro gewonnenes Lebensjahr bei 100 Prozent Lebensqualität könnte theoretisch die Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft zeigen und Preislimiten für Medikamente und Behandlungen ermöglichen.

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