Herr Cerny, es klingt nach einem Dilemma: Während in der Forschung beachtliche Fortschritte erzielt werden, steigt die Anzahl der Krebsbetroffenen weiter an. Über 43'000 Menschen erkranken jährlich in der Schweiz an Krebs. Sie sind Präsident der Stiftung Krebsforschung Schweiz. Was löst diese Entwicklung bei Ihnen aus?
Von einem Dilemma zu sprechen, ist etwas missverständlich. Es ist nicht so, dass in der Forschung Fortschritte erzielt werden und die relative Anzahl an Krebsbetroffenen dennoch ansteigt. Betrachtet man die Krebsrate pro 100'000 Einwohner nach Geschlecht und Alter nimmt die Häufigkeit von Neuerkrankungen ab. Das Problem ist ein anderes: Krebs ist eine Erkrankung des Alters und tritt häufig ab 50 Jahren auf. Während die Gesamtbevölkerung wächst und deren Lebenserwartung gleichzeitig steigt, nimmt die Gesamtanzahl der Betroffenen zu, obschon die Krebsrate deutlich abnimmt.
Gibt es neben der demographischen Entwicklung noch weitere Faktoren, die sich auf die Anzahl der Krebsbetroffenen auswirkt?
Wir erzielen heute Erfolge in der Krebsbehandlung wie noch nie zuvor. Deshalb steigt auch die Anzahl der sogenannten Cancer Survivors. Das sind Menschen, die entweder geheilt werden konnten oder mit einer beherrschbaren Krebserkrankung lange leben. In der Schweiz zählen wir bald eine halbe Million Survivors.
Im Vorwort des KFS-Jahresberichts schreiben Sie, 2021 wäre ein Jahr zum Feiern gewesen. Die erwähnten Tatsachen wären doch Gründe genug, die Korken fliegen zu lassen?
Hinsichtlich der grossen Fortschritte, die unsere Stiftung seit der Gründung erzielt hat, gäbe es viele Gründe zum Feiern: Vor dreissig Jahren habe ich als Onkologe Menschen betreut, die wir damals nicht heilen konnten. Glücklicherweise ist eine Krebsdiagnose kein Todesurteil mehr.
«Der schwarze Hautkrebs zum Beispiel kann heute geheilt werden, auch wenn er im ganzen Körper metastasiert hat.»
Heute gibt es viel präzisere, wirksamere und verträglichere Therapien gegen zahlreiche Krebsarten. Der schwarze Hautkrebs zum Beispiel kann heute geheilt werden, auch wenn er im ganzen Körper metastasiert hat. Das sind die Ergebnisse jahrelanger und intensiver Forschung. Deshalb will ich lieber weiterforschen, anstatt zu feiern.
In welchen Jahren konnte sich die moderne Onkologie durchsetzen?
In den 60er- und 70er-Jahren – damals gab es allerdings nur bei vereinzelten Krebserkrankungen grössere Fortschritte. Rasant zugenommen haben die Erfolge nach dem Millennium. Die Behandlungen von damals lassen sich in keiner Weise mit den heutigen vergleichen: Gewebeuntersuchung mittels der sogenannten molekular-genetisch basierten Pathologie hat die Diagnostik revolutioniert. Dadurch erhalten wir sehr präzise Informationen für die Entwicklung neuer Medikamente und die Wahl der individuell besten Therapien.
Was bedeutet das konkret?
Die molekulare Signatur des Tumors bei der Diagnose zeigt uns, ob ein Patient auf eine bestimmte Therapie eher anspricht oder nicht. Der Patient hat so von Anfang an die Möglichkeit, eine auf ihn zugeschnittene Therapie zu erhalten. Dank zielgerichteter Medikamente sind auch Chemotherapien und Hospitalisationen oft nicht mehr nötig. Zudem sind Therapien kürzer und effektiver geworden. Viel schonender geworden sind auch die Verfahren in der Chirurgie, der Radiotherapie und der interventionellen Radiologie.
Seit der Coronakrise liegt grosses Augenmerk auf der mRNA-Technik. Diese wurde eigentlich zur Behandlung von Krebs entwickelt. Gilt mRNA als grosser Hoffnungsträger in der Krebsforschung?
Das Wort Hoffnungsträger ist immer etwas spekulativ. Die mRNA-Technik hat der modernen Onkologie in den letzten Jahren einen enormen Schub gegeben – alleine machen wird es diese Technik jedoch nicht. Ich gehe davon aus, dass die neuen Ansätze in der Immuntherapie wie auch mRNA-basierte Immunisierungen weiter verfeinert und kombiniert zur Anwendung kommen werden.
«Aktuell ist die Immuntherapie ist in diesem Jahrzehnt mit Sicherheit die wichtigste und wirksamste Entwicklung.»
Doch auch in der Forschung kann es immer wieder zu Rückschlägen kommen. Aktuell ist die Immuntherapie ist in diesem Jahrzehnt mit Sicherheit die wichtigste und wirksamste Entwicklung.
Zelluläre Immuntherapien enthalten gentechnisch veränderte Immunzellen. Diese können die Tarn-Mechanismen der Krebszellen überwinden. Bei welchen Krebsarten kommen sie in den Einsatz?
Da die Immuntherapie ein allgemeines Abwehrprinzip des Körpers darstellt, kann es prinzipiell bei allen Krebsarten wirken, aber dies muss zuerst in klinischen Studien belegt und optimiert werden. Aktuell ist dies bereits bei vielen Krebsarten belegt, wie Lymphdrüsenkrebs, Leukämien, Lungen-, Nieren- und Brustkrebs sowie gewissen Darmtumoren und seltenere Krebsarten; sehr wirksam sind Immuntherapien bei schwarzem Hautkrebs und bringen da häufig auch Heilung in sehr fortgeschrittenen Krankheitsstadien. Die Forschung untersucht nun das Potenzial der mRNA-Therapie in Kombination mit den Immuntherapien, um noch bessere Erfolge zu erzielen.
Bevor man Krebs heilen kann, muss man ihn zuerst entdecken. Sehr bewährt sind Vorsorgeuntersuchungen. Wird es jemals einen zuverlässigen Bluttest geben?
Ein besonderes Augenmerk gilt der Liquid Biopsy. Es handelt sich dabei um einen diagnostischen Nachweis von Tumorzellen oder Tumor-DNA im Blut. Damit liessen sich Tumorerkrankungen oder Rückfälle einfacher diagnostizieren, und zwar bevor der Patient überhaupt etwas davon bemerkt hat. Weiter könnten Behandlungen damit besser überwacht und Veränderungen im Tumorgenom mit nicht invasiven Methoden frühzeitig erkannt werden. Doch hier ist noch viel zu tun, bevor dies eine breite Anwendung finden kann.
In welchen Fällen werden Massnahmen zur Früherkennung eingesetzt?
Menschen, die eine Erkrankung durchgemacht haben oder aus «Krebsfamilien» stammen, schauen wir engmaschiger an. Hier können mit entsprechender Beratung genetische Untersuchungen weiterhelfen, gefährdete Familienmitglieder frühzeitig zu identifizieren. Bewährte Vorsorge Routine-Untersuchung gibt es für Hautkrebs, Prostatakrebs, Brust- und Gebärmutterhalskrebs sowie Darmkrebs.
Neben der Früherkennung spielt auch die Prävention eine wichtige Rolle.
Das grösste Potential liegt in der Früherkennung und der Prävention. In Kombination mit der gezielten Prävention liessen sich 30 bis 40 Prozent aller Krebserkrankungen verhindern! Rauchen erhöht das Risiko an Krebs zu erkranken zwischen 85 bis zu 90 Prozent.
«In Kombination mit der gezielten Prävention liessen sich 30 bis 40 Prozent aller Krebserkrankungen verhindern!»
In der Schweiz liegt der Raucher-Anteil bei 30 Prozent. Würden anstelle von 30 Prozent «nur» noch zehn Prozent der Bevölkerung rauchen, könnten wir viele Fälle von Lungenkrebs verhindern. Ähnlich verhält es sich mit Dickdarmkrebs. Gegen den HPV-Virus, Auslöser von Gebärmutterhals- und Rachenkrebs, steht Jungen und Mädchen von neun bis vierzehn Jahren heute eine sehr wirksame Impfung zur Verfügung. Sehr wichtig ist auch die Impfung gegen Hepatitis-B und die medikamentöse Heilung der Hepatitis-C, um Leberkrebs zu verhindern. Aber auch die Nahrung und Bewegung spielen eine wichtige Rolle.
Inwiefern?
Würden sich die Menschen mehr bewegen und mehr ballastreiche Kost zu sich nehmen, könnten wir auch in diesem Sektor die Häufigkeit von Krebserkrankungen senken. Hinzu kommt, dass man ab fünfzig Jahren alle zehn Jahre eine Dickdarmspiegelung oder alle zwei Jahre den Bluttest im Stuhl machen. Es sind Untersuchungen mit minimen Risiken; dennoch sehen über achtzig Prozent der Bevölkerung davon ab, eine Dickdarmspiegelung zu akzeptieren.
«Die steigende Anzahl von Krebserkrankungen bleibt so eine gewaltige Herausforderung für unser Gesundheitssystem.»
Das ist schade. Ebenso sehr bedauerlich ist es, dass die Politik und die Versicherer so wenig unternehmen. Die steigende Anzahl von Krebserkrankungen bleibt so eine gewaltige Herausforderung für unser Gesundheitssystem. Wir müssten vermehrt die Kosten im Auge behalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Bevölkerung gesund bleibt und Krebsrisiken vermeidet.
Was müsste die Politik in Ihren Augen besser machen?
Sie müsste schneller und konsequent faktenbasiert reagieren. So etwas hochgiftiges wie eine Zigarette gehört eigentlich verboten. Auch sollte sie ein sogenanntes Nudging für bewährte Präventions- und Früherkennungsmassnahmen betreiben; sprich die Bevölkerung sanft mit klugen Informationen für eine gesunderes Verhalten gewinnen. Auch brauchen wir einen nationalen Krebsplan, damit auch solche Massnahmen als Aufgabe der Öffentlichkeit akzeptiert und finanziert werden.
9500 Personen sterben in der Schweiz jährlich an den Folgen des Tabakkonsums. Für die Allgemeinheit entstehen Kosten in Milliardenhöhe.
Ich hoffe, dass diese Zahlen nach der Annahme der Initiative «Kinder und Jugendliche ohne Tabakwerbung» gesenkt werden können. Andere Länder sind uns weit voraus.
«Unser Parlament hat die Kinder und Jugendlichen im Stich gelassen.»
In Dänemark sollen nach 2010 Geborene keine Zigaretten mehr kaufen dürfen. In der Schweiz zahlt man lieber hohe Prämien für teure Medikamente, um den vermeidbaren Krebs mit extrem teuren Medikamenten zu behandeln, statt ihn kostengünstig zu verhindern. Dann jubelt unsere Pharmaindustrie. Dass man Kinder und Jugendliche mit einer Volksinitiative vor Tabakwerbung schützen muss, ist unglaublich. Unser Parlament hat die Kinder und Jugendlichen im Stich gelassen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft, Herr Cerny?
Einen weiterhin starken und international ausgerichteten Forschungsplatz in der Schweiz, die nun an «Horizon Europe» leider nicht teilnehmen kann. Hier muss die Politik sehr rasch und grosszügig regieren, damit diese hohe Qualität und Innovation der Biomedizin in der Schweiz erhalten bleibt. Die drohende Isolation der Schweiz ist ein Desaster. Auch sollten wir den immensen unnötigen Bürokratismus im Forschungsbereich endlich abbauen und auf das Nötige reduzieren. Zudem wünsche ich mir eine gut informierte aktive Bevölkerung mit einem gesundheitsfördernden Lebensstil, der durch eine moderne Gesundheitspolitik gestärkt wird.
Zur Person
Thomas Cerny ist einer der bekanntesten Krebsmediziner der Schweiz. Der 70-jährige Berner ist Präsident der
Stiftung Krebsforschung Schweiz. Von 1998 bis zur Pensionierung 2017 war er Chefarzt Onkologie/Hämatologie am Kantonsspital St. Gallen. Davor arbeitete er als stellvertretender Chefarzt am Inselspital Bern.
In der Bundesstadt legte Thomas Cerny mit Medizinstudium, Habilitation und Professur auch den Grundstein für seine Karriere. Bis Ende Mai 2010 war er Präsident der Krebsliga und gestaltete die Krebsmedizin mit. Cerny ist Vater von drei erwachsenen Kindern und lebt in St. Gallen.