Das Berner Handelsgericht hat ein wichtiges Urteil für alle Schweizer Krankenkassen gefällt: Die Versicherungen können Heilungskosten zurückfordern, wenn ein Fahrgast gestürzt ist, weil der Zug eine Weiche ruckartig überfahren hat. Haftbar ist in solchen Fällen das Bahnunternehmen.
Im falschen Abteil eingestiegen
Konkret geht es um den Fall einer Frau, die mit ihrem Ehemann einen Zug bestiegen hatte, dann aber im bereits fahrenden Zug zu jenem Wagen gehen wollte, in welchem sie Plätze reserviert hatte. Als sie eine Türe öffnete, gab es eine ruckartige seitliche Bewegung, weil der Zug eine Weiche befuhr. Die Frau stürzte und zog sich einen Schenkelhalsbruch zu.
Das Gericht entschied darauf: Die Heilungskosten von 84'000 Franken muss nicht die obligatorische Krankenpflegeversicherung der Frau übernehmen, sondern das Bahnunternehmen.
Bahn nicht schuldig - aber haftbar
Die Krankenkasse und das Bahnunternehmen waren sich darüber einig, dass das Bahnunternehmen keine Schuld trifft. Der Unfall ereignete sich bei normalem Betrieb. Uneinig waren sie sich darüber, ob das Bahnunternehmen haftet oder nicht, und falls ja, in welchem Umfang.
Die Krankenkasse wollte einen Musterprozess führen und einen Entscheid erreichen, der auch in Zukunft als Richtlinie gelten soll. Das bedeutet nun: Ein Bahnunternehmen haftet, wenn der Zug wegen des Überfahrens einer Weiche rüttelt, Passagiere deswegen stürzen und sich dabei verletzen. In solchen Fällen können Kranken- und Unfallversicherer künftig eine Rückerstattung der Heilungskosten verlangen.
Die komplizierte Erklärung
Zu diesem Urteil kam das Gericht wegen der so genannten Gefährdungshaftung. Gefährdungshaftung bedeutet, dass die Bahn nicht für ein schuldhaftes Verhalten oder einen Mangel haftet, sondern weil eine Bahn generell als gefährlich eingestuft wird. Weil die Bahn trotz dieser Gefährlichkeit als Reisemittel benutzt wird, ist vorgesehen, dass Bahnbetreiber auch für Schäden haften, die sich aus dem normalen Betrieb ergeben.
Vor Gericht strittig war, ob das Überfahren einer Weiche ein typisches Risiko darstellt, das mit dem Betrieb der Eisenbahn verbunden ist. Eindeutig nicht zu solchen charakteristischen Risiken des Eisenbahnbetriebes gehört zum Beispiel das Ein- und Aussteigen. Denn auch bei anderen Fahrzeugen wird ein- und ausgestiegen.
Ein typisches Risiko für Züge
Hingegen gibt es nicht in jedem Fahrzeug solche ruckartigen seitlichen Bewegungen, welche die Frau zu Fall gebracht haben, sondern nur beim Überfahren einer Weiche mit einer Eisenbahn. So kam das Gericht zum Schluss, dass dies ein charakteristisches Risiko sei, das mit dem Betrieb einer Eisenbahn verbunden ist.
Im Gegenzug argumentierte das Bahnunternehmen, dass nicht die Zugfahrt das Risiko sei, sondern das unvorsichtige Verhalten der Passagiere. Im konkreten Fall hätte die Frau sofort absitzen sollen.
Gericht winkte ab
Aber das Gericht befand, dass Fahrgäste ihr Verhalten nicht den besonderen Gefahren in einer Eisenbahn anpassen müssten. Anders verhalte es sich nur, wenn die Schädigung nicht auf die besondere Gefahr der Eisenbahn zurückzuführen sei, sondern einzig im menschlichen Verhalten liege. Beispiel: Wenn ein Passagier während der Zugfahrt vor lauter Stress Wasser über seinen Laptop schüttet. Hier wird das menschliche Verhalten als rechtliche Ursache für den Schaden gesehen, auch wenn sich die Eisenbahn zum Zeitpunkt der Entstehung des Schadens fortbewegt hat.
Ein grobes Selbstverschulden der Frau sah das Gericht nicht. Und zwar mit dem Argument: «Dass die Frau nicht den Waggon bestieg, in dem sie ihre Sitzplätze reserviert hatte, kann wohl kaum als eine Sorgfaltspflichtverletzung gesehen werden. Es ist auch nicht verboten, in Zügen umherzugehen.»