Harter Schlag für Notfall-Praxen – Erfolg für Krankenkassen

Das Bundesgericht spricht sich gegen Inkonvenienz-Pauschalen für Walk-in-Praxen und Permanencen aus. Nun drohen Millionen-Rückforderungen.

, 16. Juli 2024 um 09:01
image
Gebäude des Bundesgerichts in Luzern  |  Bild: PD
Dürfen Notfall-Praxen und Permanencen abends spezielle Entschädigungen verrechnen? Vor allem: Dürfen sie das kategorisch? In einem wichtigen Streit zwischen Anbietern und Kassen hat nun das Bundesgericht entschieden. Es kam zum Schluss, dass zusätzliche Pauschalen nur abgerechnet werden dürfen, wenn die Konsultation ausserhalb der regulären Sprechstunden stattgefunden hat.
Das heisst: Eine Permanence, die regulär beispielsweise bis 23 Uhr geöffnet hat, kann nicht automatisch jenseits der Bürozeiten höhere Sätze verlangen. Die Dringlichkeits-Inkonvenienz-Pauschale sei für Fälle geschaffen worden, bei denen ein Hausarzt ausserhalb seiner Praxiszeit einen kurzfristigen Sondereinsatz leisten muss, befand das oberste Gericht. Aber nicht für Permanence- oder Walk-In-Praxen.
Einen konkreten Streitfall bot die Permanence beim Bahnhof Winterthur. Die Praxis arbeitet als Hausarztpraxis bis 17.30 Uhr und als Notfallpraxis bis 22 Uhr. Auf ihrer Website macht sie darauf aufmerksam, dass bei Behandlungsbeginn nach 19 Uhr sowie an Wochenenden und Feiertagen eine Inkonvenienzpauschale verlangt werde.

Knackpunkt «Publizierte Öffnungszeiten»

Diverse Krankenkassen forderten via Tarifsuisse knapp 1,2 Millionen Franken zurück. In Zürich befand das Schiedsgericht, dass die Permanence die Notfall-Pauschale abrechnen dürfe, wenn die Konsultation nach 19 Uhr tatsächlich dringlich sei. Denn dadurch decke die Praxis den Notfalldienst ab, weshalb sie Anrecht auf den Zuschlag habe. So könne die Praxis auch höhere Lohnauslagen infolge von Abend-, Wochenend- und Feiertagsarbeit begleichen.
Das Bundesgericht widersprach nun: Eine «zu den publizierten Öffnungszeiten vorgenommene Behandlung» gelte «als während den ‚regulären‘ Sprechstundenzeiten» durchgeführt: «Bietet eine Praxis lange Öffnungszeiten an, wirbt mit diesen und richtet damit gleichsam ihr Geschäftsmodell darauf aus, Patienten ausserhalb der allgemein üblichen Zeiten zu behandeln, so führt dies dazu, dass sie nicht berechtigt ist, für die während der Öffnungszeiten vorgenommenen Behandlungen die vorliegend streitige Pauschale abzurechnen».
Der Entscheid des Bundesgerichts wird weitreichende Folgen haben, denn der Fall ist bei weitem nicht speziell. Es gab zuletzt immer mehr dieser Notfall-Praxen. Und die werden nach diesem Urteil womöglich viel Geld zurückzahlen müssen.

Jetzt: Geld zurück

«Nun ist es an den Vorinstanzen zu berechnen, wie hoch der Betrag ausfällt, den die betroffenen Permanence-Praxen zurückerstatten müssen», schreibt Santésuisse zum konkreten Winterthurer Fall: «Die Forderungen von Tarifsuisse belaufen sich auf einen Millionenbetrag. Dieses Geld fliesst in die Reserven der Krankenversicherer, wovon wiederum die Prämienzahlerinnen und Prämienzahler profitieren.»
Aber zugleich verlangten die Versicherer im Herbst 2023 beispielsweise auch vom City Notfall in Bern gut 1,4 Millionen Franken zurück. Und in diesem Fall befand bereits ein kantonales Gericht, dass eine Konsultation nach 19 Uhr keine Sonderleistung sei, wenn eine Praxis regulär bis 22 Uhr geöffnet hat.
Im Vorfeld des neuen Bundesgerichts-Urteils hatte Beat Straubhaar, langjähriger Spitaldirektor in Thun und Ex-Verwaltungsrats des Berner City-Notfalls, noch gewarnt: «Die Krankenkassen wissen nicht, was ihr Verband anrichtet», sagte er zu Medinside. Man solle sich überlegen, welche immensen Kosten entstehen, wenn der City-Notfall und ähnliche Institutionen den Betrieb einstellen.
«Wir haben berechnet, dass die Kosten in einem Spitalnotfall mindestens doppelt so hoch sind im Vergleich mit dem City-Notfall», sagte Straubhaar. Wenn die Praxen schliessen würden, gingen deren Patienten ins Spital, würden dort die Notfallstationen noch mehr belasten – und letztlich mehr Kosten verursachen.
  • Bundesgerichts-Urteil 9C_33/2024 vom 24.6.2024


  • Notfälle
  • praxis
  • Tarifsystem
Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Plädoyer für die Teilzeit-Krankschreibung

Es sei überholt, dass man nur ganz krank oder gar nicht krank sein kann, findet der oberste Arzt Deutschlands.

image

Ambulante Pauschalen: Chirurgen verlangen mehr Mitsprache

Die FMCH kritisiert, dass der Input der Spezialärzte in der OAAT zuwenig beachtet wurde. Und sie bietet an, bei der Überarbeitung der Pauschalen stärker mitzuwirken.

image

Tardoc und ambulante Pauschalen unter Dach und Fach. Oder doch nicht?

Die Spitäler, Ärzte und Versicherer haben das neue Gesamt-Tarifsystem abgesegnet. Bei der FMH gibt es allerdings noch Widerstand.

image

Schon vorbei? Britische Ärzte wollen keine Physician Associates mehr

Die führenden Medizinerverbände der Insel fordern, dass der Einsatz von Klinischen Fachspezialisten in den Praxen gestoppt wird.

image

Swiss Medi Kids in Existenznot – Modell mit Swica und CSS

Das Bundesgerichts-Urteil zu den Notfallpauschalen hat in der Kindermedizin besonders deutliche Folgen.

image

Der Réseau de l'Arc reicht bald bis ins Tessin

Das neue Grundversorgungsmodell benötigt einen Wachstumsschub. Aber die Macher haben ein aktuelles Argument – die Krankenkassenprämien.

Vom gleichen Autor

image

Auch Graubünden will Spitäler mit 100 Millionen stützen

Das Geld würde aber nicht direkt an die Betriebe gehen. Zudem sollen Spitäler leichter in Gesundheitszentren verwandelt werden können.

image

US-Software für das USZ? Debatte um eine Beschaffung

Vor dem Entscheid über ein neues Klinikinformationssystem beim Universitätsspital Zürich schalten sich Parlamentarier ein – aus allen Richtungen und mit einem klaren Wink.

image

Service-Personal zu Pflege-Personal

Die Helios-Kliniken in Deutschland haben eine neue Idee gegen den Fachkräftemangel: Sie entlassen externe Service-Angestellte. Und bieten ihnen dann eine Pflege-Ausbildung an.