Dürfen Notfall-Praxen und Permanencen abends spezielle Entschädigungen verrechnen? Vor allem: Dürfen sie das kategorisch? In einem wichtigen Streit zwischen Anbietern und Kassen hat nun das Bundesgericht entschieden. Es kam zum Schluss, dass zusätzliche Pauschalen nur abgerechnet werden dürfen, wenn die Konsultation ausserhalb der regulären Sprechstunden stattgefunden hat.
Das heisst: Eine Permanence, die regulär beispielsweise bis 23 Uhr geöffnet hat, kann nicht automatisch jenseits der Bürozeiten höhere Sätze verlangen. Die Dringlichkeits-Inkonvenienz-Pauschale sei für Fälle geschaffen worden, bei denen ein Hausarzt ausserhalb seiner Praxiszeit einen kurzfristigen Sondereinsatz leisten muss, befand das oberste Gericht. Aber nicht für Permanence- oder Walk-In-Praxen.
Einen konkreten Streitfall bot die Permanence beim Bahnhof Winterthur. Die Praxis arbeitet als Hausarztpraxis bis 17.30 Uhr und als Notfallpraxis bis 22 Uhr. Auf ihrer Website macht sie darauf aufmerksam, dass bei Behandlungsbeginn nach 19 Uhr sowie an Wochenenden und Feiertagen eine Inkonvenienzpauschale verlangt werde.
Knackpunkt «Publizierte Öffnungszeiten»
Diverse Krankenkassen forderten via Tarifsuisse knapp 1,2 Millionen Franken zurück. In Zürich befand das Schiedsgericht, dass die Permanence die Notfall-Pauschale abrechnen dürfe, wenn die Konsultation nach 19 Uhr tatsächlich dringlich sei. Denn dadurch decke die Praxis den Notfalldienst ab, weshalb sie Anrecht auf den Zuschlag habe. So könne die Praxis auch höhere Lohnauslagen infolge von Abend-, Wochenend- und Feiertagsarbeit begleichen.
Das Bundesgericht widersprach nun: Eine «zu den publizierten Öffnungszeiten vorgenommene Behandlung» gelte «als während den ‚regulären‘ Sprechstundenzeiten» durchgeführt: «Bietet eine Praxis lange Öffnungszeiten an, wirbt mit diesen und richtet damit gleichsam ihr Geschäftsmodell darauf aus, Patienten ausserhalb der allgemein üblichen Zeiten zu behandeln, so führt dies dazu, dass sie nicht berechtigt ist, für die während der Öffnungszeiten vorgenommenen Behandlungen die vorliegend streitige Pauschale abzurechnen».
Der Entscheid des Bundesgerichts wird weitreichende Folgen haben, denn der Fall ist bei weitem nicht speziell. Es gab zuletzt immer mehr dieser Notfall-Praxen. Und die werden nach diesem Urteil womöglich viel Geld zurückzahlen müssen.
Jetzt: Geld zurück
«Nun ist es an den Vorinstanzen zu berechnen, wie hoch der Betrag ausfällt, den die betroffenen Permanence-Praxen zurückerstatten müssen»,
schreibt Santésuisse zum konkreten Winterthurer Fall: «Die Forderungen von Tarifsuisse belaufen sich auf einen Millionenbetrag. Dieses Geld fliesst in die Reserven der Krankenversicherer, wovon wiederum die Prämienzahlerinnen und Prämienzahler profitieren.»
Aber zugleich verlangten die Versicherer im Herbst 2023 beispielsweise auch vom City Notfall in Bern gut
1,4 Millionen Franken zurück. Und in diesem Fall befand bereits ein kantonales Gericht, dass eine Konsultation nach 19 Uhr keine Sonderleistung sei, wenn eine Praxis regulär bis 22 Uhr geöffnet hat.
Im Vorfeld des neuen Bundesgerichts-Urteils hatte Beat Straubhaar, langjähriger Spitaldirektor in Thun und Ex-Verwaltungsrats des Berner City-Notfalls, noch gewarnt: «Die Krankenkassen wissen nicht, was ihr Verband anrichtet»,
sagte er zu Medinside. Man solle sich überlegen, welche immensen Kosten entstehen, wenn der City-Notfall und ähnliche Institutionen den Betrieb einstellen.
«Wir haben berechnet, dass die Kosten in einem Spitalnotfall mindestens doppelt so hoch sind im Vergleich mit dem City-Notfall», sagte Straubhaar. Wenn die Praxen schliessen würden, gingen deren Patienten ins Spital, würden dort die Notfallstationen noch mehr belasten – und letztlich mehr Kosten verursachen.