Notfall oder nicht? Es geht um Millionen.

Nun muss das Bundesgericht urteilen: Wann dürfen Praxen einen Notfall abrechnen und wann nicht?

, 28. Februar 2024 um 08:32
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Der City-Notfall in Bern ist täglich von 7 bis 22 Uhr geöffnet. Die Frage ist: Wann sind die Behandlungen dort ein teurer Notfall - und wann sind sie es nicht?
Das war vielen Krankenkassen zu viel: Der City Notfall beim Bahnhof Bern verrechnete für die Behandlung eines dringlichen medizinischen Problems nach 19 Uhr rund 40 Franken mehr als vor 19 Uhr.
Letzten Herbst gab ein Schiedsgericht im Kanton Bern den Krankenkassen recht und verlangte vom City Notfall 1,4 Millionen Franken zurück.
Das Schiedsgericht argumentierte: Die Pauschale sei für Fälle gedacht, bei denen Ärztinnen und Ärzte ausserhalb ihrer eingeplanten Arbeitszeit eine Behandlung übernehmen, sie also eine Sonderleistung erbringen. Weil eine Praxis wie der City Notfall regulär bis 22 Uhr geöffnet hat, sei eine Konsultation nach 19 Uhr keine Sonderleistung.

Aufteilung nützte nichts

Es nützte dem City-Notfall auch nichts, dass er die Sprechstundenzeiten auf seiner Website in reguläre – bis 19 Uhr – und in notfallmässige Termine – ab 19 Uhr – aufteilte. Das Schiedsgericht fand, dass diese Unterscheidung für die Patienten nicht nachvollziehbar sei.
Nun wird das Bundesgericht darüber entscheiden müssen, wann Praxen Notfälle abrechnen dürfen und wann nicht, wie die «Berner Zeitung» meldete.
Der Entscheid wird weitreichende Folgen haben, denn der City-Notfall ist bei weitem kein Einzelfall. Es gibt immer mehr solche Notfall-Praxen. Und je nach Urteil werden diese entweder sehr viel Geld zurückzahlen müssen – oder sie können mit ihrem Geschäftsmodell weiterfahren und von den Notfall-Zuschlägen profitieren.
Der Ausgang ist keineswegs klar, denn ein Schiedsgericht im Kanton Zürich hat anders als in Bern entschieden.

In Winterthur Zuschlag erlaubt

Die Permanence beim Bahnhof Winterthur arbeitet als Hausarztpraxis bis 17.30 Uhr und als Notfallpraxis bis 22 Uhr. Auf ihrer Website macht sie darauf aufmerksam, dass bei Behandlungsbeginn nach 19 Uhr sowie an Wochenenden und Feiertagen eine Inkonvenienzpauschale verlangt werde.
Auch dort klagte eine Krankenkasse. Doch sie erhielt die geforderten 1,2 Millionen Franken nicht zurück. Das Schiedsgericht fand, dass die Permanence die Notfall-Pauschale abrechnen dürfe, wenn die Konsultation nach 19 Uhr tatsächlich dringlich sei.

Höhere Löhne abdecken

Damit decke die Praxis den Notfalldienst ab und habe deshalb Anrecht auf den Zuschlag. So könne die Praxis auch höhere Lohnauslagen infolge von Abend-, Wochenend- und Feiertagsarbeit begleichen.
Tarifsuisse – die Organisation der Krankenkassen – wehrt sich gegen dieses Zürcher Urteil ebenfalls vor Bundesgericht. Mit reellen Chancen. Denn das Berner Schiedsgericht betonte ausdrücklich: Die Notfall-Pauschale sei nicht dazu da, besondere Praxisstrukturen zu finanzieren, zu unterhalten oder gar zu fördern.
«Man kann nicht jeden Patienten als Notfall behandeln, nur weil man sich als Notfallpraxis betitelt.»  Daniel Sigrist, CSS
Schon vor drei Jahren wehrte sich die Krankenkasse CSS in einem ähnlichen Fall. Sie wurde stutzig, weil die Notfallpraxis der Zuger Ärzte 99 Prozent ihrer Fälle mit der einträglichen Notfallpauschale abrechnete; unter anderem auch Patienten, die nur ein Rezept abholten.

«Nicht generell ein Notfall»

Dieter Siegrist, der Leiter Wirtschaftlichkeitsprüfung bei der CSS, argumentierte damals: «Man kann nicht jeden Patienten als Notfall behandeln, nur weil man sich als Notfallpraxis betitelt.» Auch im Tarmed stehe: «Die Behandlung von nicht angemeldeten Patienten gilt nicht generell als Notfall oder als dringlich und rechtfertigt somit nicht in jedem Fall die Abrechnung von Leistungen.»
Die CSS wollte unrechtmässig verrechnete Notfallpauschalen nicht nur von der Zuger, sondern auch von einigen anderen Notfallpraxen zurückverlangen. Schon damals war klar: Die Rückzahlungen könnten pro Praxis über eine Million Franken betragen. Das Bundesgericht muss nun Klarheit schaffen.

Noch mehr Probleme im neuen Tarif?

Der neue Ärztetarif Tardoc, welcher bald den Tarmed ablösen wird, könnte weitere Abgenzungsprobleme schaffen. Neu wird es nämlich auch eine Notfallpauschale geben für Fälle, welche während der regulären Praxisöffnungszeit behandelt werden.
Dringlichkeit ist im bisherigen Tarmed so definiert, dass die Konsultation ausserhalb der regulären Sprechstundenzeiten stattfindet. Im Tardoc wird somit eine neue Art von Dringlichkeit geschaffen, nämlich jene während den normalen Sprechstundenzeiten.

So viel dürfen Ärzte für Notfälle verlangen

Tarmed, der einheitliche Tarif für ambulante ärztliche Leistungen in der Schweiz, sieht zehn verschiedene Arten von Notfall-Zuschlägen vor, unter anderen diese drei:
  • Am einträglichsten ist die Notfallpauschale nachts: Dafür können die Ärzte 180 Taxpunkte, also 148 bis 175 Franken* verrechnen.
  • Die Abend- und Wochenendpauschale beträgt 110 Taxpunkte, das heisst 90 bis 107 Franken.
  • Tagsüber beträgt die Notfallpauschale 50 Taxpunkte, also 41 bis 49 Franken.
*Die Werte der Taxpunkte sind je nach Kanton verschieden: Den tiefsten Wert haben das Wallis, Zug, Luzern und Schwyz mit 82 Rappen, den höchsten der Jura mit 97 Rappen.


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