Ein Schuss ins Knie – oder endlich Fairplay?

Die einen befürchten eine Schwächung der Hausarzt-Medizin und vollere Notfallstationen, die anderen sehen einen Sieg für die Prämienzahler: Reaktionen aufs Bundesgerichts-Urteil zur Zusatz-Honorierung in Permanencen.

, 19. Juli 2024 um 04:00
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Jetzt wieder mehr so? Vision eines überfüllten Warteraums im Spital-Notfall |   Symbolbild: Medinside (erstellt mit Midjourney)
Es gibt Hausärzte, die abends ausrücken – und dafür erhalten sie eine zusätzliche Honorierung.
Und es gibt Hausärzte, die abends in einer Notfall- oder Walk-in- oder Permanence-Praxis arbeiten – aber das ist eine andere Sache. Sie sollen nach den normalen Tarifen honoriert werden.
Diese Trennung sieht ein Bundesgerichts-Urteil vor. Eine Gruppe von Krankenkassen, angeführt von Tarifsuisse, hatte die Rechnung der Permanence beim Bahnhof in Winterthur beanstandet – und nun vor dem obersten Gericht Recht bekommen. Es ist ein Urteil, das die Grundversorgung verändern und auch Praxen bedrohen könnte.

1. Frage: Ambulant oder stationär?

Dies erwartet unter anderem der Gesundheitsökonom Beat Straubhaar: Das Geschäftsmodell der Notfall- und Permanence-Praxen sei «in der heutigen Form kaum weiterzuführen», sagt er. Die genauen Konsequenzen seien zwar noch offen – aber klar sei, dass es für die Kassen nicht billiger wird.
  • Hintergrund: Schlag für Notfall-Praxen – Erfolg für Krankenkassen. Das Bundesgericht spricht sich gegen Inkonvenienz-Pauschalen für Walk-in-Praxen und Permanencen aus. Nun drohen Millionen-Rückforderungen.
Straubhaar war in seiner Karriere unter anderem Präsident des Felix Platter Spitals und Direktor des Spitals Thun – aber auch Verwaltungsrat bei der Berner City Notfall AG. Diese Praxis wurde vor gut zehn Jahren von der Klinik Sonnenhof (heute Lindenhofgruppe) und dem Inselspital gegründet – just mit dem Ziel, die Notfallstationen zu entlasten, erinnert Straubhaar. Und damit auch die Prämienzahler.
«Denn es ist erwiesen, dass Behandlungen auf Notfallstationen doppelt so teuer sind wie in einer Walk-In- beziehungsweise Hausarztpraxis. Die von den Kassenfunktionären behauptete Kostenersparnis wird das Gegenteil sein. Und, was noch dramatischer ist: Die ärztliche Versorgung der Bevölkerung wird sich noch mehr eingeschränkt». Ingesamt trage das höchstrichterliche Urteil «nicht gerade dazu bei, die Hausarztmedizin zu stärken.»
Ähnliche Befürchtungen hegt man beim Haus- und Kinderärzteverband MFE Schweiz. Erst müsse das Urteil noch genau analysiert werden, sagt Monika Reber, die Co-Präsidentin von MFE, aber: «Das Urteil könnte Auswirkungen auf die Notfallversorgung und -organisation ganzer Regionen haben». Denn es berge die Gefahr, dass sinnvolle Strukturen zerschlagen werden, womit sich auch die Patientenströme verändern – «und das», erwartet Hausärztin Reber, «in Richtung der Spitäler. Was sicher nicht billiger kommt»

2. Frage: Andere Geldquellen?

Für Matthias Müller ist der Fall indes nicht so klar. Als Kommunikations-Verantwortlicher von Santésuisse steht er auf der Gegenseite. «Wir gehen davon aus, dass dank der bereits heute fair ausgestalteten Tarife die erwähnten Behandlungen möglich sind – auch mit korrektem Abrechnen», sagt Müller. Entscheidend sei für die Versicherten, dass nicht willkürlich abgerechnet wird. «Das Bundesgericht hat nun festgestellt, dass die Abrechnungen tatsächlich nicht korrekt waren.»
Im Übrigen, so der Krankenkassen-Vertreter, gebe es eine weitere Lösung: «Es sind durchaus Mittel vorhanden, um den ärztlichen Notfalldienst zu finanzieren. Hausärztinnen und Hausärzte, die keinen Notfalldienst leisten, bezahlen dafür korrekterweise eine Entschädigung an die jeweilige Ärztegesellschaft – und diese Gelder wiederum können für solche Einsätze zu Randzeiten eingesetzt werden. Ob das tatsächlich geschieht, entzieht sich unserer Kenntnis.»

3. Frage: Was ist fair, was nicht?

Dass der Bundesgerichtsentscheid für einige Betreiber von Notfallpraxen gravierende Folgen haben könnte, erwartet auch Felix Huber. Aber nicht für alle: Viele Praxen hätten auch verzichtet, gibt der Präsident der Praxisgruppe MediX Schweiz zu bedenken: «mediX begrüsst die bundesgerichtliche Klärung der umstrittenen Verrechnung der Inkonvenienzpauschale in Notfallpraxen. Während viele Permanencen sich immer korrekt verhalten haben, verrechneten andere diese Pauschale und generierten damit ein bedeutsames Zusatzeinkommen. Das ist wettbewerbsverzerrend und unfair.»

4. Frage: Was wollte eigentlich die Politik?

Eine juristische Argumentation bringt Katja Berlinger vor, die Gründerin und Leiterin der Permanence-Gruppe Swiss Medi Kids: Das Bundesgericht habe die Zuständigkeitsregelung für die Tarifinterpretation übergangen – und sich auch nicht mit den Interpretationen der zuständigen Kommission PIK auseinandergesetzt. Weiter habe das Gericht die Definition von regulären Sprechstunden durch das BAG beim bundesrätlichen Tarifeingriff 2018 ignoriert (➡️ siehe Seite 4u; ferner: «Änderung der Verordnung über die Festlegung und die Anpassung von Tarifstrukturen in der Krankenversicherung», Januar 2017, Punkt 9).
Die neue Rechtsprechung sei «ein Rückschritt in antiquierte Versorgungsmodelle», so Katja Berlinger in einem Post auf LinkedIn: «In diesen Zeiten sollte die Grundversorgung und insbesondere die Grundversorgung durch Kinder- und Hausärzte ausserhalb von Spitälern gefördert werden, da sie nachweislich billiger ist. Ambulant wird durch den Entscheid gegenüber stationär-ambulant weiter abgewertet, denn im Spitalnotfall kann nach wie vor die Eintrittspauschale gemäss Tarmed abgerechnet werden.»
Nun sei zu befürchten, dass wieder mehr Notfälle in den Spitälern behandelt werden: «Das vermeintliche Einsparungspotentiall für die Versicherten wird somit durch teurere Behandlungen zerrinnen». Und: «In der bereits unzureichend tarifierten Kinder- und Jugendmedizin wird die Luft mehr als eng.»
Für MFE-Co-Präsidentin Monika Reber ist klar, dass sich nun diverse Parteien neu ausrichten müssen. «Die Kantone sind in der Pflicht», sagt die Fachärztin für Innere Medizin: «Denn sie sind es, die in der Verantwortung stehen, die Notfallversorgung sicherzustellen.» In der Pflicht seien zudem die Krankenkassen: «Eine kostengünstige und effiziente Versorgung muss auch in ihrem Interesse sein. Sie müssen realisieren und aufarbeiten, welche Folgen sich aus der neuen Rechtslage ergeben könnten.»

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