Erst war das Training: Am Vormittag des 13. November übten Pariser Feuerwehrleute und Notfall-Mediziner das Szenario eines Amoklaufs. Als dann in der Nacht tatsächlich Kugeln flogen, dachten einige Mediziner, dies sei eine Fortsetzung der Übung. Was tönt wie ein ironischer Bogen, zeigte einen besonders wichtigen Punkt: «An den Tatorten wie in den Spitälern erwies sich das Training, welches die Angestellten der Notfall- und medizinischen Dienste erhalten hatten, als entscheidender Faktor».
Dies schreibt eine Gruppe von Medizinern unter Leitung von
Martin Hirsch, dem Chef des Pariser Spitalverbunds APHP. Keine zwei Wochen nach den Attentaten von Paris veröffentlichten beteiligte Ärzte im Fachblatt «The Lancet» nun eine erste Analyse der Ereignisse.
Das Drama ist trocken aufgemacht und beschrieben: Insgesamt 302 direkte Opfer der Attentäter mussten in dieser Nacht betreut werden, hinzu kamen die anderen Notfälle – zum Beispiel drei kritische Herzinfarkt-Patienten in den entscheidenden Stunden.
Um 22.34 Uhr, 64 Minuten nach der ersten Bombe, aktivierte der Pariser Spitalverbund den «Weissen Plan» – ein Notfall-Ablaufszenario, das in den letzten zwanzig Jahren entwickelt worden war. Im Kern steht dabei eine Kriseneinheit des Pariser Spitalverbunds APHP (Assistance Publique-Hôpitaux de Paris).
Zum «Weissen Plan» gehört, dass diese Einheit sofort zusätzliche Fachkräfte aufbietet und teilweise Patienten im postoperativen Stadium aus den Akutspitälern an andere Orte verlegt. Dies geschah nun sofort.
Das Leitungsteam bestand aus 20 Krisenspezialisten, darunter 5 Medizinern. Dieses Gremium entstandte einerseits medizinische Dreierteams an die Schauplätze. Zugleich setzte es Triage-Gruppen in den Spitälern ein. Und drittens gründete es im Spital Hôtel Dieu ein Zentrum zur psychologischen Unterstützung aller Beteiligten. Dort fanden sich 35 Psychiater ein.
Triage am Eingang der Spitäler
Die ersten Dreierteams – bestehend aus einem Arzt, einem Pflegeexperten und einem Sanitätsfahrer – konnten innert weniger Minuten nach dem ersten Selbstmord-Anschlag vor dem Stade de France losgeschickt werden.
Insgesamt gingen in dieser Nacht 45 solcher Einsatzgruppen los; 15 weitere standen bereit für den Fall, dass weitere Anschläge passieren sollten.
Eine weitere Triage-Stufe wurde bei den Eingängen der Spitäler in der Nähe der Tatorte eingerichtet. Von dort wurden die Patienten entweder zu Schock-Trauma-Einheiten, direkt in Operationssäle oder in normale Notfallabteilungen weitergeleitet.
Sechs zusätzliche OPs, zehn Helikopter
Mit dem Personal, das von selber eintraf, konnten innert Kürze sechs zusätzliche Operationssäle in Betrieb genommen werden: zwei für Orthopädie, zwei für Viszeralchirurgie, zwei für Neurochirurgie und sonstige Kopfverletzungen.
In einem weiteren Schritt liess das Krisenteam zehn Hubschrauber-Equipen sich bereitmachen, während zugleich entferntere Universitätsspitäler in erhöhte Bereitschaft versetzt wurden für den Fall, dass weiterer Andrang bewältigt werden müsste. Notwendig wurden sie nicht.
«Kein einziges Mal Personalnot»
Zusammenfassend stellt Martin Hirsch, der Generaldirektor der Assistance Publique-Hospitaux de Paris, fest: «Während der ganzen Notlage gab es kein einziges Mal Personalnot. Trotz einer noch nie erlebten Anzahl von Verwundeten kamen die bestehenden Dienste auch nicht annähernd an ihre Grenzen.» Zugleich habe man vermeiden können, dass alle Ressourcen auf das erste Notfall-Szenario fokussiert waren, während es plötzlich an Personal fehlte für spätere Krisenzonen. Kurz: Es fehlte niemals an Backup.
Neun Stunden nach den ersten Angriffen waren die betroffenen Patienten weitgehend versorgt und auf die Stationen verteilt.
«Keine Grenze wurde hier erreicht»
Was machte den doch reibungslosen Ablauf letztlich aus? Natürlich würdigen die Autoren die Spontaneität und den professionellen Einsatz aller Beteiligten. Sie diskutieren aber noch einen interessanten Aspekt: die Grösse des Spitalverbunds. Denn die APHP ist Europas grösste Krankenhaus-Organisation: 40 Spitäler, 200 OPs, 100'000 Angestellte, 22'000 Betten.
«Wir hatten schon geahnt, dass die Grösse der Organisationen in Zeiten des Disasters ein Vorteil sein könnte», schreiben die Autoren. «Dieser Vorteil wurde nun demonstriert. Keine Koordinations-Mängel mussten identifiziert werden. Keine Lücken und keine Verzögerungen traten ein. Keine Grenze wurde erreicht.»
Die Grösse als Vorteil?
Zudem glaube man, dass solch eine Struktur nicht nur in Zeiten der Krise ein Vorteil ist, sondern auch an einem normalen Tag. «Ein grosser Spitalkomplex ist auch fähig, kraftvolle Forschung zu betreiben, beträchtliche Datenmengen zu beherrschen und eine wichtige Rolle in der öffentlichen Gesundheit zu spielen.»
Was geschehen sei, stärke jedenfalls den Glauben, dass Grösse mit Tempo und Exzellenz kombiniert werden kann.