Mein Marathon: «Ich habe einfach überlebt»
Ich bin Chara Frangos, Marketingleiterin der Rehaklinik Zihlschlacht und besuche Karin, eine Patientin der Rehaklinik Zihlschlacht. Ich klopfe, lausche, es folgt ein «Herein!» aus dem Zimmer, das hinter dieser Türe liegt. Als ich eintrete, bemerke ich zuerst den Laptop auf dem Tisch, der vor dem grossen Panoramafenster steht. Auf dem Tisch etliche Zeichnungen. Darüber, am Fenster, ebenfalls. Es wirkt bunt und fröhlich.
Links vom Tisch sitzt Karin auf einem Stuhl. Sie wirkt nicht weniger fröhlich als die Zeichnungen, die in dieser Momentaufnahme ein Teil von allem sind. Ein Teil von Karin. Ein Teil von diesem Zimmer in der Rehaklinik Zihlschlacht.
Familienmensch. Sechsfache «Omammi». Unternehmerin.
Vier Wochen später besuche ich Karin in ihrem Zuhause. Ihr Austritt aus der Rehaklinik Zihlschlacht erfolgte nach zehn Wochen Rehabilitation. Karin ist ein Familienmensch. Sie ist stolze Mutter von drei Töchtern und obendrein «Omammi» von sechs Enkelkindern, die innert viereinhalb Jahren geboren wurden. Das erinnert mich an Marathons. Vermutlich, weil Karin mir im letzten Gespräch erzählt hat, dass sie an vielen mitgelaufen ist.
Traumatischer Ferienanfang
Von einem Moment auf den anderen war alles anders. Der Schlaganfall ereignete sich am ersten Ferienmorgen in Palermo. Ihr Partner Tomi und Karin sind seit zehn Jahren leidenschaftliche Camper. Als Karin am ersten Morgen aufstand und die Treppe hinunterstieg, bekam sie weiche Knie. Es folgte ein Schweissausbruch. Beim Blick in den Spiegel hatte sie den Eindruck, ihr Gesicht sei «schräg». Trotz sichtbarer Symptome war die Situation für Karin dennoch nicht fassbar. Tomi hingegen war schnell klar, dass Karin vermutlich einen Schlaganfall erlitten hatte: Karin sprach undeutlich, knickte beim Versuch aufzustehen weg und konnte ihr T-Shirt nicht anziehen – der Arm machte nicht mehr mit. Tomi handelte umgehend und alarmierte über die Campingaufsicht den Krankenwagen. Die halbseitige Lähmung und andere Symptome traten nach kürzester Zeit auf.
Eintritt im Rollstuhl. Austritt zu Fuss.
Zurück in der Schweiz trat Karin nach acht Tagen in einem städtischen Spital im Rollstuhl in die Rehaklinik Zihlschlacht ein. Als Familienmensch entschied sie sich für die Privatklinik Oasis, in deren Zimmer Übernachtungsmöglichkeiten für die Familie vorhanden sind. Mir gefiel, dass ich in die Therapieplanung einbezogen wurde und dass meine Rehabilitationsziele gemeinsam definiert wurden. Als der Arzt mich bei der Eintrittsvisite fragte, was ich mir wünsche, sagte ich: ‹Ich will alles wieder können.›»
Mein Rehabilitationsprozess. Mein Marathon. Schritt für Schritt.
Karin nutzte das breite stationäre Therapieangebot der Rehaklinik Zihlschlacht und nahm täglich an sechs bis sieben Therapieeinheiten teil. Nach vorne sehen, das war wichtig. Ihre komplette rechte Körperhälfte war gelähmt. Aber sie ist eine Macherin. Und sie machte. Tag für Tag. Schritt für Schritt.
An den Abenden und Wochenenden waren ihre Liebsten zu Besuch. Das Zimmer füllte sich rasch mit allerlei persönlichen Dingen. Auf dem Tisch der Laptop. «Zum ‹Zoomen›», sagte mir Karin. «Ich muss doch wieder lernen, zu schreiben und zu zeichnen – im Moment mit links. Über Zoom übe ich die Ausführung mit der linken Hand gemeinsam mit meiner Enkelin, die gerade lernt, Buchstaben zu schreiben.»
Ziele. Erfolge. Geduld.
Geduld ist nicht unbedingt ein Wort, das Karin mag. Lieber Ziele, die es zu erreichen gilt, oder Erfolge, die zu feiern sind. Eine gute Freundin brachte ihr drei Boxen mit den jeweiligen Aufschriften: Ziele. Erfolge. Geduld. Dazu Zettel, auf die Karin die täglichen Erfolge, Themen für die Geduld oder erreichte Ziele notieren konnte. Am meisten Zettel schrieb Karin für die Rubrik «Erfolge». Logisch, denn in der Schachtel «Ziele» gab es nur einen Zettel: «Ich will alles wieder können.» Und Geduld? Diese Box wollte sie nicht unbedingt füllen.
«Am ‹Omammi› hälfe»
Die Enkelkinder reagieren sehr natürlich auf die neuen Lebensumstände. Wenn «Omammi» nicht auf den Boden sitzen kann, dann sitzen die Kinder eben auf «Omammis» Schoss auf dem Stuhl. Beim Spaziergang nimmt die kleine Enkelin Karin an die Hand, damit sie sich beim Gehen sicher fühlt. «Das sind die Momente, für die man lebt, in denen einem das Herz aufgeht», sagt Karin. Ausserdem ist die Enkelin sehr stolz, wenn sie «Omammi» in der Küche zur Hand gehen kann. Einhändig Eier für die feinen Crêpes aufzuschlagen, ist etwas schwierig. Allerdings nicht, wenn man so zauberhafte Unterstützung hat und gemeinsam den «Zmittag» in die Schüssel klopft.
Das Selbstbild
«Ich habe immer viel Sport getrieben, mich gesund ernährt, kaum Alkohol konsumiert, nicht geraucht, ein gutes Anti-Stress-Management betrieben, ausreichend Pausen und Ferien beachtet; es hat mich einfach erstaunt, dass ich von einem Schlaganfall betroffen bin. Das aktuelle Selbstbild stört mich», sagt Karin. Jetzt bin ich langsam auf meinen Beinen unterwegs, ich fühle mich halt wie eine am Stock hinkende Grossmutter.» Arm und Hand sind teilweise noch gelähmt. Autofahren geht nicht. Die damit verbundenen Abhängigkeiten auszuhalten, fällt schwer.
Apropos Erfolgsbox
Ein Versprechen nahm Karin ihrer Physiotherapeutin in der Rehaklinik Zihlschlacht ab. Es war für Karin ein grosser Ansporn, wieder Marathons laufen zu können – mag es auch noch lange oder vielleicht auch nie mehr, soweit sein. Karins Physiotherapeutin selber kann dem Laufsport nicht viel abgewinnen. Karin verlangte deshalb von ihr: «Wenn ich eines Tages wieder Marathon laufen kann, dann läufst du mit.» Die Physiotherapeutin willigte ein. Besiegelt wurde die Abmachung mit einem Bild, das Karin malte. Auf dem Bild sind die Therapeutin und Karin beim gemeinsamen Zieleinlauf am Jungfrau-Marathon zu sehen. Sollte dies irgendwann Realität werden, stellen wir das Foto zum Vergleich neben die Zeichnung.