Ob Arzt, ob in der Pflege: Wer eine qualifizierte Medizin-Fachkraft ist, findet offene Türen – und zwar in vielen Ländern auf der Welt. Und das hat Konsequenzen, die wir alle irgendwie spüren. Zum Beispiel in einem Ausländeranteil, der beim medizinischen Personal überdurchschnittlich hoch ist.
Aber was bedeutet das genau? Dieser Frage gehen nun zwei Sozialwissenschaftler der Universitäten Sheffield und York in einem Essai nach. Ausgangspunkt ist ein aktueller Streit auf der Insel: Gewisse Sparmassnahmen im Gesundheitssystem NHS treffen insbesondere Nachwuchsmediziner. Dies führt so weit, dass die
britischen Ärzte jetzt ernsthaft mit Streik drohen. Und auf der anderen Seite, so erste Zahlen, brechen mehr und mehr junge Ärzte ihre Zelte ab: Sie suchen Jobs im Ausland.
Medizin ist eine Migrationsfrage
Hier zeichnet sich ein Hauptthema ab, welches die Gesundheitsbranche in den nächsten Jahren mehr und mehr beschäftigen dürfte, so Majella Kilkey und Neil Lunt: Medizin als Migrations-Frage.
In der Schweiz ist der Mangel an einheimischem Personal ja bereits ein Dauerthema. Kritisiert, wird, dass die Universitäten offenbar zuwenig Mediziner ausbilden, weshalb ausländische Ärzte geholt werden müssen; oder dass allzu viele Pflegefachleute allzu früh aus dem Job aussteigen.
Aber man kann die Sache auch umgekehrt sehen: Sparmassnahmen, Lohndruck, Personalmangel – solche Themen werden auch in den Gesundheitssystemen anderer Staaten zu einem drängenden Problem. Was zu einem Teufelskreislauf führen kann: Der Personalmangel und Arbeitsdruck frustriert; das wiederum bringt qualifizierte Leute dazu, nach Chancen im Ausland zu suchen; womit sich viele Mängel zuhause weiter verschärfen.
Im Gesundheitswesen funktioniert dieser Mechanismus besonders effizient. Denn Ärzte und Pfleger können ihre Kenntnisse ganz leicht exportieren: Sie sind in vielen Ländern herzlich willkommen.
Über 1500 Ärzte in drei Tagen
Was das bedeutet, wurde also jetzt im Vereinigten Königreich besonders greifbar: Mitte September verkündete Gesundheitsminister Jeremy Hunt ein neues Vertragsraster für Assistenzärzte (Junior Doctors); dabei fallen einerseits längere Überzeiten an, andererseits werden die Überzeiten insgesamt geringer kompensiert.
Ergebnis: Alleine in den drei Tagen nach der Ankündigung von Hunt verlangten täglich knapp 550 Ärzte jenen Ausweis, der für die Anerkennung ihrer Approbation im Ausland vonnöten sind.
Majella Kilkey und Neil Lunt fanden heraus, dass sich vor allem jüngere Mediziner unter 40 um Auslandsmöglichkeiten bemühen. Die Hauptzielländer: Australien, Neuseeland, Kanada und die USA. Und diese Staaten wiederum betreiben eine ähnliche Politik wie die Schweiz: Sie stützen ihr Gesundheitssystem zu einem erheblichen Teil darauf ab, dass jährlich neue Fachkräfte ins Land strömen.
Die Ansprüche anderer Staaten steigen
Der globale Konkurrenzkampf wird hier also deutlich fassbar. Die Schweiz ist dabei auf den ersten Blick in einer guten Lage: Sie bietet dem Personal doch ein gewisses Polster aus anständigen Löhnen, akzeptablen Arbeitszeiten und Mitsprachemöglichkeiten. Damit kann auch das hiesige Gesundheitswesen – ähnlich Neuseeland oder Australien – einen Teil ihrer Personalprobleme durch Immigration lösen.
Das Problem ist allerdings: Die Ansprüche anderer Staaten werden sich in den nächsten Jahren verschärfen, etwa durch die demographische Alterung. So dass die Lage auch für die Schweiz enger würde.
Auf den ersten Blick heisst das: Das einheimische Medizinpersonal bekommt mehr und mehr bargaining power, wie der Fachbegriff lautet: Es kann zum Beispiel auf tiefere Arbeitszeiten drängen – und sonst mit Abwanderung drohen.
Zuwanderungs- gegen Abwanderungs-Lust
Aber nur auf den ersten Blick. In diesem Gleichgewicht ist nämlich eine entscheidende Frage, wie sich Abwanderungs- und Zuwanderungs-Lust in einem Land die Waage halten.
In England drängt diese Waage, so paradox es erscheint, jetzt plötzlich die so gefragten Medizin-Fachkräfte hinaus. Denn die britischen Inseln wurden in den letzten Jahren zunehmend attraktiv für medizinische Fachkräfte aus anderen EU-Ländern, insbesondere aus den südeuropäischen Eurokrisen-Staaten. Das wichtigsten Herkunftsländer für Ärzte in Grossbritannien sind momentan Italien, Spanien und Griechenland.
Weshalb der Gesundheitsminister und das NHS-System jetzt ein Sparprogramm auf dem Buckel der Nachwuchs-Mediziner durchziehen können.
«Auf gewisse Weise sind die Ärzte die jüngsten Opfer der Globalisierung, wenngleich in einer viel privilegierteren Lage als schlechter ausgebildete Arbeitnehmer», schreiben Kilkey und Lunt.
Südeuropäische Spital-Fachleute strömen ins Land, einheimische Spital-Fachleute suchen derweil neue Chancen irgendwo in Übersee: Die Entwicklung mag eine Warnung sein, gerade für die Schweiz.
- Siehe auch: «I'm sorry, I can't face being a doctor any more. My family and I won’t survive the junior doctor contract financially or personally – I’m giving up». Ein britischer Arzt erzählt, weshalb er seinen Beruf aufgibt. In: «The Guardian».