Der Unmut gegenüber Menschen, die sich nicht gegen Covid-19 impfen lassen wollen, nimmt weltweit zu. Feindseligkeiten, die in den Medien und auf sozialen Kanälen verbreitet werden, liegen an der Tagesordnung.
Wie tief das Niveau gesunken ist, zeigt ein Bericht in einer grossen amerikanischen Tageszeitung:
Die Geschichte: Alex Haug erhielt einen letzten Anruf von ihrem ungeimpften Vater. Der 51-jährige an Covid geplagte Mann war heiser von der Intubation. Nachdem sie acht Stunden allein nach Jasper gefahren war, um sich im Krankenhaus endgültig von ihm zu verabschieden, nachdem sie ihn einäschern gelassen hatte und seine Asche mit ihrer Stiefmutter und drei verzweifelten Schwestern teilte, erfuhr sie was die Leute im Internet über ihn sagten:
- «Anti-Vax — ein DUMMER Hügel, um zu Sterben. Er starb umsonst», schrieb der eine Kommentator.
- «Sie bekommen, was sie verdienen», fügte ein anderer hinzu.
Haugs eine Schwester hatte ihr den Link zu
«Sorry Antivaxxer» geschickt. Die Internetseite katalogisiert Covid-19-Todesfälle von Menschen, die ihre Ablehnung des Impfstoffs öffentlich gepostet hatten – so auch Haugs Vater. Nachdem diese eine Schwester die unsympathischen Dinge über ihren Vater gelesen hatte, der noch keine Woche tot war, konnte sie nicht mehr arbeiten. Den Atem verschlug es der Familie als ein weiterer Kommentator auf die Bitte einer anderen Schwester «als Familie trauern zu dürfen, ohne in der Zeit schikaniert zu werden», schrieb:
«Ich kann es kaum erwarten, hier über dich zu lesen.»
«Überzeugung funktioniert nicht durch Statistiken und Beweise. Sie funktioniert durch Emotionen: Ein identifizierbares Opfer wirkt intensiver als abstrakte aggregierte Statistiken über allfällige Schäden», erklärt Piercarlo Valdesolo, Gastprofessor am Macalester College in St. Paul, Minnesota, der moralisches Urteil studiert, in der Zeitung.
Laut der grössten Tageszeitung in Washington ist die Geschichte von Haug kein Einzelfall. Das Problem: Allein in den letzten Monaten gebe es in den USA Zehntausende solcher Todesfälle. «Aufgrund eines toxischen Eintopfs bestehend aus politischer Feindseligkeit und Misstrauen sterben viele der Ungeimpften reuelos. Und die Geimpften haben die Nase voll», schreibt die «Washington Post» weiter.
Schlagwort: «Compassion fatigue»
«Mitgefühlsmüdigkeit» – eines der Schlagworte der Pandemie seit Anfang dieses Sommers – sei passiv: Es sei die Erschöpfung mit dem Ausmass von Tod und Feindseligkeit was zu völliger Apathie führe. Dies sei besonders unter den Beschäftigten im Gesundheitswesen der Fall.
«Diese Gefühle waren vorhersehbar und unvermeidlich: Unsere politischen und epidemiologischen Umstände haben den perfekten Cocktail für Schadenfreude geschaffen.»
Ein Teil der Erschöpften sei in Schadenfreude verfallen, so die Zeitung: Dem Vergnügen am Unglück einer anderen Person. Es seien Seiten wie «Sorry Antivaxxer», der Twitter-Account «Covidiot Deaths» oder das Reddit-Forum namens Herman Cain Award, benannt nach dem ehemaligen republikanischen Präsidentschaftskandidaten, der im Juli 2020 an Covid starb.
«Diese Gefühle waren vorhersehbar und unvermeidlich: Unsere politischen und epidemiologischen Umstände haben den perfekten Cocktail für Schadenfreude geschaffen», gibt der Psychologie-Professor Piercarlo Valdesolo zu denken.
Diese drei Faktoren spielen eine Rolle
Für dieses unsensible Verhalten gibt es laut Valdesolo drei erklärbare Gründe:
Erstens: Der erste Faktor ist mit der «in- und out-Group-Psychologie verbunden». Konkret: «Bei den Impfungen geht es auch um eine politische Identität: Ein heftiger und feindseliger Konflikt zwischen den Gruppen.»
Zweitens: «Geimpfte interpretieren den Impfstoff als etwas, das sie nicht nur für sich selbst, sondern auch zum Schutze anderer tun. Ein Mensch ausserhalb dieser Gruppe, schadet also anderen, womöglich sogar denjenigen aus der eigenen Reihe.» Das könne Gedanken auslösen wie etwa «der andere hat etwas Schädliches getan also hat er den Tod verdient».
Drittens: «Jeder hat die Möglichkeit, sich impfen zu lassen. Das kann bei Menschen, die geimpft sind, dazu führen, dass sie deshalb kein Mitleid für Ungeimpfte entwickeln können, die schwer krank werden oder gar sterben. Sie hätten schliesslich die Möglichkeit gehabt, sich impfen zu lassen.»