Kostenexplosion bei Myelom-Behandlungen

Die Behandlungsmöglichkeiten beim Multiplen Myelom sind besser denn je. Die Kehrseite der Medaille: Die Medikamente sind enorm teuer. Im Interview erzählt Prof. Dr. Driessen, wo er dringenden Handlungsbedarf sieht.

, 5. April 2019 um 04:00
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    Christoph Driessen

    Seit Mai 2017 ist Christoph Driessen Chefarzt der Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie (Nachfolge Prof. T. Cerny) am Kantonsspital St. Gallen (KSSG). Sein klinischer Schwerpunkt sind Leukämien, Lymphome und das Multiple Myelom. Für das Myelom, die häufigste Krebserkrankung des Blut- und Lymphsystems, ist er einer der führenden klinischen und wissenschaftlichen Experten in Europa.

Die mittlere Lebensdauer von Patienten mit Multiplem Myelom hat sich in den letzten 10 Jahren gegenüber der Vorperiode fast verdoppelt. Welches sind wesentliche Gründe hierfür?  Einer der Hauptgründe sind neue zielgerichtete Medikamente, die wir seit einigen Jahren zur Verfügung haben. Diese greifen in die Zellbiologie, speziell in die der Myelomzellen ein. Sie sind auch in der Standarttherapie den Patienten heute in grosser Breite zugänglich. Zudem haben wir nun auch erste immunologische Wirkstoffe gegen das Myelom, die Antikörper. Dadurch werden sich die Überlebenszahlen in Zukunft noch weiter nach oben bewegen.
Welche substantiellen Verbesserungen der Therapien können Myelom Patienten in absehbarer Zukunft erwarten?  Momentan werden die neuen Medikamente und Antikörper meist erst in einer relativ späten Phase des Krankheitsverlaufes verabreicht. Wenn diese nun zunehmend in der Erstlinientherapie zum Einsatz kommen, wird sich das noch einmal deutlich auf den Therapieverlauf auswirken. Eine weitere erfolgversprechende Entwicklung ist jene der Zell-vermittelten Immuntherapien, zum Beispiel der BITES und der CAR-T-Zell Therapie. Diese zeigen in Studien schon heute ein gutes Ansprechen, sogar in sehr fortgeschrittenen Krankheitsstadien. Zelluläre Immuntherapien werden nach meiner Erwartung irgendwann in der Erstlinientherapie ankommen und möglicherweise die Stammzelltransplantation ersetzen oder ergänzen. Bis es allerdings soweit ist, müssen diese Therapien noch deutlich sicherer und besser verfügbar sein. Es gibt aktuell noch viele Fragezeichen.
Ist eine Heilung des Multiplen Myeloms in Zukunft denkbar?  Ich bin überzeugt, dass ein relevanter Anteil der Myelom Patienten in Zukunft geheilt werden kann, wahrscheinlich heilen wir einen kleinen Teil von ihnen schon heute. Mit den heutigen Therapieoptionen haben wir nach meiner Überzeugung grundsätzlich die Werkzeuge zur Hand, um viele Patienten dauerhaft vom Myelom zu befreien. Man sollte sich hierzu das Beispiel der kindlichen akuten Leukämie vor Augen führen. Vor 40 Jahren sind 80 Prozent der Kinder gestorben. Heute können über 80 Prozent geheilt werden, ohne dass man dazu wesentlich neue Medikamente einsetzt. Vielmehr wurde systematisch der Einsatz der vorhandenen Therapien über eine sehr lange Behandlungsdauer immer weiter optimiert.
Die entscheidende Optimierungsarbeit steht bei der Myelomtherapie erst noch bevor. Welche Erwartungen haben Sie?  Eine ähnliche Entwicklung wie bei der kindlichen akuten Leukämie wäre beim Myelom wünschenswert. Momentan stehen uns in so kurzer Zeit so viele neue Medikamente zur Verfügung, dass wir gar nicht dazu gekommen sind, wirklich zu evaluieren, in welcher Phase sie am besten eingesetzt und wie sie am besten kombiniert werden. 
Die Zulassung neuer Myelommedikamente ist positiv für den Patienten, bringt jedoch finanzielle Fragen mit sich. Schliesslich kosten die Medikamente bis zu 40 000 USD pro Patient und Monat. Welche Aspekte müssen hier diskutiert werden?  So wie die Preisgestaltung momentan ist, und so gross wie die Nachfrage und die Therapiedauer mit diesen Medikamenten aus jetziger Sicht sind, wird sich das unser Gesundheitssystem auf Dauer nicht leisten können. Wir sind hier an einem ganz schwierigen Punkt. Dazu gibt es verschiedene Szenarien: Entweder wird man die Medikamente in Zukunft rationalisieren und nur noch ausgewählte Patienten damit behandeln.
Hier wären wir bei der befürchteten Zweiklassenmedizin.  Deshalb ist meiner Meinung nach ein sehr wichtiger Aspekt, dass wir als Zivilgesellschaft politisch regulierend stärker bei der Preisgestaltung eingreifen. Im Moment orientiert sich der Preis weltweit letztlich am amerikanischen Marktpreis, der von der Industrie festgesetzt wird. Die Pharmaindustrie als Branche erreicht weltweit Gewinn-Margen von bis zu 20 Prozent des Umsatzes, letztlich auf Kosten der öffentlichen Gesundheitswesen. Ich bin überzeugt, dass es hier Möglichkeiten gibt, um die finanziellen Vorteile und Belastungen dieser Entwicklung ausgewogener zwischen Industrie, Versicherungen und Zivilgesellschaft zu verteilen.
Wie erleben Sie als Arzt die Situation?  Es ist oft beschämend und manchmal erschütternd: Man bekommt den Eindruck, als wehre sich unser Gesundheitssystem momentan dadurch, dass es die Spanne zwischen Zulassung und Kassenpflichtigkeit, also dem Nachweis der medizinischen Sicherheit und Wirksamkeit bis zur Verfügbarkeit für die Therapie regulärer Kassenpatienten, immer länger macht, oft über ein Jahr. Auch wenn wir ein zugelassenes Medikament nun dringend benötigen und aufgrund wissenschaftlicher Daten mit guter Sicherheit annehmen können, dass es einen Vorteil für den Patienten bietet, können wir es oft nicht einsetzen ohne Kostengutsprache der Krankenkasse. Diese Kostengutsprache wiederum kommt vom Vertrauensarzt der Krankenkasse, der kein Spezialist ist und der die Situation fachlich im Detail oft nicht beurteilen kann. 
Was bedeutet das für Sie konkret?  Nicht selten müssen wir mehrfach Wiedererwägungsgesuche stellen, was einen enormen zeitlichen Aufwand bedeutet. Dennoch sehe ich meine Aufgabe darin, für meine Patienten die bestverfügbare Therapie zu organisieren, wissend, dass die Preise zum Teil völlig überrissen sind.
Sie haben erforscht, dass sich das HIV-Medikament Nelfinavir erfolgreich beim Multiplen Myelom einsetzen lässt. Gleichzeitig wäre es mit 1000 Franken verhältnismässig günstig... Wir haben in der Schweiz zusammen mit der SAKK eine Phase 2 Studie gemacht, in der wir gezeigt haben, dass das Medikament bei rund zwei Dritteln der Patienten mit einer weit fortgeschrittenen Erkrankung wirkt. Zum Vergleich: mit den Myelom-Medikamenten der neuesten Generation bewirkt man hier meist ein Therapieansprechen von etwa 30 Prozent. Daher haben diese Daten für sehr viel Aufmerksamkeit in der «Myelom Welt» gesorgt.

Jährlich erkranken in der Schweiz rund 560 Patienten neu an einem Multiplen Myelom. Dabei verändern und vermehren sich die Immunzellen im Knochenmark unkontrolliert. 

Weshalb ist seine Zukunft als Myelom-Medikament dennoch ungewiss?  Als HIV Medikament ist Nelfinavir in Europa und der Schweiz nicht mehr zugelassen. Es gibt nur noch einen Hersteller in Kanada, von dem man es jetzt auch international beziehen kann. Jedoch wird auch dieser die Produktion wahrscheinlich einstellen, weil sich der Einsatz für die HIV-Therapie wirtschaftlich nicht mehr lohnt. Es gibt hier mittlerweile wesentlich bessere Medikamente. Für uns und die Myelompatienten bedeutet das, dass wir das Medikament wahrscheinlich verlieren werden. Warum? Wenn Wirkstoffe keinen Patentschutz mehr haben, lassen sich Investitionen in sie nicht mehr schützen, und daher lässt sich mit ihnen kaum Geld verdienen. 
...und werden dadurch für die  Pharmafirmen uninteressant.  So ist es. Für uns ist es eine ärgerliche Situation: wir haben ein erfolgreiches, bezahlbares Medikament, das letztendlich aus strategisch kommerziellen Gründen verschwinden wird. Aber das ist die Logik der Medikamentenentwicklung. Und zwar deshalb, weil man sie komplett dem kommerziellen Markt überlassen hat.
Was müsste sich hier ändern?  Grosse klinische Studien mit Krebsmedikamenten können heute fast nur noch mit finanzieller Unterstützung der Pharmaindustrie gemacht werden. Folglich finden auch an Universitäten und Spitälern kaum entsprechende wirklich unabhängige Forschungen statt. Wir als Gesellschaft müssen uns fragen, wo wir in diesen Prozess eingreifen und selbst wieder Verantwortung und das Heft des Handelns übernehmen können. Meiner Meinung nach müssten hier die Krankenversicherungen aktiv werden. Sie haben langfristiges strategisches Interesse daran, die Kosten in der Balance zu halten. Sie müssten aktiv wissenschaftliche Untersuchungen zum Einsparen von Medikamenten oder zum Nachweis der gleichwertigen Wirksamkeit günstigerer Medikamente initiieren und unterstützen. 
Weshalb könnte die Umnutzung von Medikamenten besonders in der Krebsmedizin in Zukunft interessant sein?  Wir wissen heute sehr viel genauer und auf molekularer Ebene, wie Krebs entsteht. Bei alten Medikamenten, deren molekulare Wirkungen gar nicht im Detail erforscht sind, deren Verträglichkeit man aber schon gut kennt, könnte man systematisch nach diesen molekularen Wirkungen und damit nach neuen Anwendungen zu suchen. Dadurch könnte man einen Teil der aufwendigen Entwicklungen neuer Wirkstoffe und damit Kosten sparen. Das Potential wäre vorhanden, jedoch scheitern die meisten Medikamentenumnutzungen, wenn es konkret wird. Denn: sie sind finanziell nicht lukrativ.
In der Myelombehandlung geht ein Medikament bereits mit positivem Beispiel einer Umnutzung voran. Eine der medizinisch bislang erfolgreichsten Umnutzungen im Krebsbereich ist das ehemalige Schlafmittel «Contergan». Sein Wirkstoff Thalidomid war patentrechtlich in einer Sondersituation, und daher konnten Abkömmlinge entwickelt werden, die heute als hochwirksame und ebenfalls sehr teure Myelomtherapie zum Einsatz kommen. 
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