Wir brauchen mehr Placebos – gerade in der Chirurgie

In der Medikamenten-Forschung sind Blindstudien mit Placebos selbstverständlich. So sollte es auch in der Chirurgie sein. Denn auch ein chirurgischer Eingriff wirkt oft weniger als ein Placebo. Ein Beitrag von Andrew George, Brunel University.

, 30. März 2016 um 07:21
image
  • forschung
  • chirurgie
Sie sind krank, wahrscheinlich verängstigt, verunsichert. Ihre Ärztin bespricht Ihren Zustand und erklärt, dass es leider keine Behandlung gibt. Allerdings weiss Sie von einem klinischen Test für ein neues Medikament. Und dass dafür jetzt gerade Teilnehmer gesucht werden.
Das Problem ist, dass Sie «randomisiert» einer von zwei Gruppen zugeteilt werden: Eine Gruppe erhält das neue Mittel, die andere ein Placebo. Die Chance, die neuartige Behandlung zu bekommen, liegt bei 50 zu 50.
Also: Was tun Sie?
Klinische Versuche sind so angelegt, dass Sie (und oft auch Ihr Arzt) nicht wissen, ob Ihnen die experimentelle Behandlung zuteil wird oder das Placebo. Diese Blind-Versuchsanlage hilft, Verzerrungen zu vermeiden. Wenn ein Patient weiss, dass er einen realen Wirkstoff erhält, berichtet er mit grösserer Wahrscheinlichkeit, dass er sich danach besser fühlt. 
  • image

    Der Autor

    Andrew George ist Professor für Molekularimmunologie und Vizerektor der Brunel University in London. George ist auch Mitglied des Ethik-Beirats der britischen Health Research Authority.

Geht es um ein Medikament, so wird ein Placebo aussehen wie eine realistische Arznei (eine Pille oder eine Infusion). In der Chirurgie-Forschung könnte ein Placebo beinhalten, dass man einen Schnitt auf die Haut bekommt – mehr nicht.
Wer also eine experimentelle Behandlung durchläuft, kann auf zweierlei Weise profitieren: Die Behandlung verbessert den Zustand – weil dies so vorgesehen ist. Oder aber die Behandlung funktioniert nicht im eigentlichen Sinne. Aber dass man etwas erhält, von dem man glaubt (oder hofft), dass es den Gesundheitszustand verbessert, hat eine heilende Wirkung. 
Solche Placebo-Effekte müssen von den Forschern stets einberechnet werden, wenn sie testen, ob eine Therapie effektiv ist oder nicht.

Nur 53 solcher Studien in zweieinhalb Jahren

Besonders wichtig sind die Placebo-Kontrollen, wenn das Resultat eines klinischen Tests «weich» beziehungsweise subjektiv ist. Die Schmerzen, die jemand verspürt, hängen teilweise vom Bewusstseinszustand der Person ab. «Härtere» und objektivere Ergebnisse – etwa die Grösse eins Tumors – werden weniger beeinflusst von den Erwartungen des Patienten beziehungsweise des Arztes.
Placebo-kontrollierte Tests sollten auch in der Chirurgie öfter eingesetzt werden, um zu erkennen, ob neue chirurgische Methoden auch wirklich effektiv sind. Dies betonte das Royal College of Surgeons in England soeben mit neuen Richtlinien (siehe unten). Es gibt zuwenig chirurgische Forschungen, bei denen auch Placebos eingesetzt werden; nur 53 solcher Studien wurden seit November 2013 veröffentlicht.  
Dieser Artikel wurde ursprünglich publiziert in «The Conversation». Lesen Sie den Original-Beitrag: «We should use placebos more often, especially in surgery», März 2016. 
Das Verblüffende daran: In der Hälfte jener Studien kam heraus, dass die chirurgische Intervention gegenüber dem Placebo keine besseren Resultate zeitigte. Dabei werden diese Operationen weiterhin routinemässig durchgeführt. Dies bedeutet, dass viele Patienten sich dem Risiko und den Belastungen einer Operation unterziehen, ohne einen Nutzen davon zu haben. 
Das ethische Versagen liegt nicht darin, dass gewisse Studien mit Placebo-Kontrollgruppen arbeiten, sondern dass es solche Forschungsarbeiten nicht schon früher gab.
Der Einsatz von Placebos ist ein entscheidender, wenn auch oft missverstandener Beitrag zur medizinischen Forschung. Aber der Einsatz und die korrekte Verwendung von Placebos ist nicht nur gute Wissenschaft, sondern auch gute Ethik. 
image

Placebo-Chirurgie, ethisch korrekt


Das Royal College of Surgeons – also die Fach- und Standesorganisation der Chirurgen in England – veröffentlichte soeben ein Positionspapier, in dem es mehr Placebo-Kontrollgruppen in der Chirurgie verlangt.
Die englischen Chirurgen legen darin dar, dass bis zum Stichdatum Oktober 2015 bloss 75 Studien publiziert wurden, bei denen ein chirurgischer Eingriff einer Placebo-Kontrolle unterzogen wurde. Zum Vergleich: Alleine in England gab es 2014/2015 gut 1'900 klinische Forschungsstudien.
Als Argument für mehr Placebo-Tests in der Chirurgie nannten die Verantwortlichen eine bedenkenswerte Zahl: Bei 53 Untersuchungen, in denen seit 2013 solch ein Vergleich vorgenommen worden war, erwies sich die Operation nicht als effektiver als eine Placebo-Operation. 
Mageres Ergebnis bei der Gelenkarthrose
Als Beispiel genannt wird die Behandlung der Gelenkarthrose im Knie – weder die gängigen arthroskopischen Methoden der Gelenkspülung noch der Beseitigung von Knochenwucherungen erzielten bessere Ergebnisse als eine Placebo-Operation.
Das Royal College of Surgeons editierte denn auch einige Regeln, wie solche Placebo-Operationen ethisch korrekt durchgeführt werden können. Eine Bedingung ist zum Beispiel, dass den Patienten keine Operation verwehrt wird, die erwiesenermassen effektiv ist.


Artikel teilen

Loading

Comment

Mehr zum Thema

image

Ostschweizer Kispi und HSG: Gemeinsames Diabetes-Forschungsprojekt

Untersucht wird, wie sich Blutzuckerschwankungen auf die Nervengesundheit bei Kindern mit Diabetes Typ 1 auswirken - und welche Rolle Lebensstilfaktoren spielen.

image

Das «Time Magazine» ehrt noch einen Schweizer

Fidel Strub verlor seine rechte Gesichtshälfte an die Tropenkrankheit Noma. Seit Jahren kämpft er für deren Erforschung.

image

Insel-Chirurg mit dem Håkan Ahlman Award ausgezeichnet

Cédric Nesti wurde von der Europäischen Gesellschaft für Neuroendokrine Tumoren für eine Publikation über die Gefährlichkeit von Lymphknotenmetastasen.

image

Neues Prognosemodell weist auf Risiko für Opioidabhängigkeit hin

Unter der Leitung von Maria Wertli (KSB) und Ulrike Held (USZ) haben Forschende der ETH Zürich und der Helsana ein Modell zur Risikoeinschätzung einer Opioidabhängigkeit entwickelt.

image

Hirntumor-Risiko für Kinder: Entwarnung

Schuld könnten die kleinen Fallzahlen sein: Dass Kinder im Berner Seeland und im Zürcher Weinland mehr Hirntumore haben, ist wohl das Zufalls-Ergebnis einer Studie.

image

Seltene Krankheiten: «Oft spürt die Mutter, dass etwas nicht in Ordnung ist»

Wird dereinst das gesamte Genom des Neugeborenen routinemässig auf Krankheiten untersucht? In manchen Ländern wird das schon getestet, sagt Stoffwechselspezialist Matthias Baumgartner.

Vom gleichen Autor

image

Überarztung: Wer rückfordern will, braucht Beweise

Das Bundesgericht greift in die WZW-Ermittlungsverfahren ein: Ein Grundsatzurteil dürfte die gängigen Prozesse umkrempeln.

image

Kantone haben die Hausaufgaben gemacht - aber es fehlt an der Finanzierung

Palliative Care löst nicht alle Probleme im Gesundheitswesen: … Palliative Care kann jedoch ein Hebel sein.

image

Brust-Zentrum Zürich geht an belgische Investment-Holding

Kennen Sie Affidea? Der Healthcare-Konzern expandiert rasant. Jetzt auch in der Deutschschweiz. Mit 320 Zentren in 15 Ländern beschäftigt er über 7000 Ärzte.