«Von der Art und Weise, wie Tarife und Preise für die Vergütung der Leistungen in der sozialen Krankenversicherung gebildet und gehandhabt werden, gehen entscheidende Impulse für die Kostenentwicklung in der Krankenversicherung aus, welche ihrerseits einen wichtigen Teil der Gesamtkostenentwicklung im Gesundheitswesen ausmacht.»
Diese Ausführungen stammen aus der Botschaft des Bundesrates über die Revision der Krankenversicherung vom 6. November 1991. Seit ihrer Publikation sind einige Jahre vergangen. Allerdings haben sie nichts von ihrer Aktualität eingebüsst. Denn:
- Werden Tarife und Preise zu tief angesetzt, droht Unterversorgung.
- Werden sie zu hoch angesetzt, besteht die Tendenz zur Überversorgung.
- Ist die dahinterstehende Tarifstruktur schlecht konzipiert oder veraltet, geht die Entwicklung in eine ähnliche Richtung. Und genau daran krankt der aktuelle Arzttarif Tarmed.
- Philomena Colatrella ist seit 2016 CEO der Krankenkasse CSS.
- Yvonne Gilli, Fachärztin für Innere Medizin, ist seit 2021 Präsidentin der FMH.
- Willy Oggier gehört zu den führenden Gesundheitsökonomen der Schweiz.
Dabei geht es um sehr viel Geld: Über diesen Tarif werden jährlich rund 13 Milliarden Franken abgerechnet. Das entspricht rund einem Drittel der Leistungen der gesamten Krankenversicherung.
Seiner Weiterentwicklung steht jedoch ein Konstruktionsfehler im Weg: Anpassungen erfordern die Einstimmigkeit der Tarifpartner. Deshalb ist er seit sage und schreibe zwanzig Jahren nicht mehr aktualisiert worden – ein grosses Problem, denn die stetige Pflege der ambulanten und stationären Tarifstrukturen der sozialen Krankenversicherung wäre eine Daueraufgabe.
Diese ist anspruchsvoll, weil die Halbwertszeit des medizinischen Wissens heute nur wenige Jahre beträgt. In medizinischen Teilgebieten wie etwa der Krebsmedizin dürfte sie gar weitaus kürzer ausfallen.
«Die stetige Pflege der ambulanten und stationären Tarifstrukturen wäre eine Daueraufgabe.»
Die Ärztegesellschaft FMH, die Unfallversicherer, der Verband der Krankenversicherer Curafutura mit ihrem Mitglied CSS sowie die Mitbewerberin Swica haben den Handlungsbedarf erkannt. In unzähligen Arbeitsstunden haben sie die veraltete ambulante Einzelleistungs-Tarifstruktur grundlegend neu aufgestellt, Tarifpositionen entschlackt und dem aktuellen Stand der Medizin angepasst. Berücksichtigt wurden auch eine Vielzahl von Rückmeldungen des Bundesamtes für Gesundheit BAG. Daraus entstand in jahrelanger Arbeit die neue Tarifstruktur Tardoc.
Aus der Vergangenheit wurden Lehren gezogen: Eine durch alle Tarifpartner und die Gesundheitsdirektoren-Konferenz GDK getragene Organisation wird sich fortan um die kontinuierliche Pflege des ambulanten Tarifs kümmern.
Umso unschöner ist, dass die Prämienzahlerinnen und Prämienzahler trotz dieser guten Voraussetzungen nach wie vor auf die Umsetzung dieser wichtigen Reform warten müssen. Der Gesamtbundesrat formulierte 2022 abschliessende Forderungen, die für die Einführung des Tardoc gelten.
«Es gibt keinen einzigen Grund dafür, dass der Bundesrat auf der gleichzeitigen Einführung von Pauschalen und Tardoc beharrt.»
Nachdem die Tarifpartner diese in der nunmehr fünften überarbeiteten Fassung haben einfliessen lassen, wurde der Tarif Ende 2023 zur Genehmigung eingereicht. Die parallel sich entwickelnden ambulanten Pauschalen stehen nicht in Konkurrenz zum Einzelleistungstarif Tardoc. Im Gegenteil, es braucht beides. So werden in der Hausarzt- und Kindermedizin auch künftig individuelle Behandlungen durchgeführt werden, welche die Pauschalen nicht abdecken können.
Es gibt keinen einzigen Grund, dass der Bundesrat auf der gleichzeitigen Einführung von Pauschalen und Tardoc beharrt. Die Berechnung der ambulanten Pauschalen darf sich nicht ausschliesslich an den teuersten Strukturen – jene der Spitäler – ausrichten. Der Tardoc berücksichtigt auch die kosteneffizienteren Arztpraxen. Auf dieser modernen Datengrundlage können die Pauschalen anschliessend entwickelt werden.
Der Bundesrat hat es in der Hand, nach Jahren des Stillstandes Nägel mit Köpfen zu machen. Mit der Genehmigung des Tardoc würde die neue Führung des EDI gegenüber den Tarifpartnern signalisieren, dass sie sich auf den bundesrätlichen Beschluss von 2022 verlassen können. Und sie kann einen Schlussstrich hinter die Verzögerungstaktik der letzten Jahre ziehen. Zudem kann der Tardoc einen Beitrag leisten, die ambulante Versorgung zu fördern.
Reformen sind möglich
Reformen sind im schweizerischen Gesundheitswesen nicht nur möglich, sondern angesichts der Prämienlast auch dringend. Beispiele sind die Umsetzung des Risikoausgleichs, der die ungute Jagd nach jungen und gesunden Versicherten eindämmte oder die vom Parlament verabschiedete einheitliche Finanzierung ambulanter und stationärer Leistungen. Gelingt mit der Tardoc-Genehmigung eine weitere?
Sie wäre enorm wichtig, um das Krankenversicherungssystem zu modernisieren. Alles, was es dazu braucht, ist ein entschlossenes Vorangehen des Bundesrates. Ansonsten verstreicht die Chance, einer weiteren längst überfälligen Reform zum Durchbruch zu verhelfen. Sie ist eine der Voraussetzungen für ein zukunftsfähiges schweizerisches Gesundheitswesen.