Herzlichen Glückwunsch zum Viktor in der Kategorie «herausragendste Persönlichkeit». Wie haben Sie die Preisverleihung erlebt?
Ich hatte einen schwierigen Tag hinter mir. Hintergrund war ein persönlicher Angriff auf meine Person, der mir verdeutlichte, wie das Thema der Lieferengpässe noch immer wahrgenommen wird: Was nicht sein darf, das ist nicht. Wer das Gegenteil behauptet, ist ein Verbündeter der Pharmaindustrie. Der Preis und die damit verbundene Anerkennung für meine Arbeit haben mich an diesem Tag deshalb ganz besonders gefreut.
Ihnen wurde am Tag der Viktor Verleihung vorgeworfen, Sie würden die Angst von Patienten für Eigeninteressen missbrauchen. Was machen solche Aussagen mit Ihnen?
Es ist zermürbend – seit Jahren kämpfe ich gegen Windmühlen. Dass mir in besagtem Post Eigeninteresse vorgeworfen wurde, hat mich besonders getroffen. Schliesslich setze ich mich tagtäglich dafür ein, für das Spital günstig einzukaufen und deren Versorgung sicherzustellen. Ich bin also eigentlich auf der gleichen Seite wie jene, die mir Eigeninteresse vorwerfen. Das war für mich schwierig nachvollziehbar. Zugleich hat dieser Post eine ganze Branche diffamiert: Pfleger, Apotheker und Ärzte, die mit der aktuellen Krise – ja es ist eine Krise! – umgehen müssen.
Seit 20 Jahren machen Sie auf die Problematik der Medikamentenknappheit aufmerksam. Mit mässigem Erfolg…
Das Problem wurde verdrängt und unter den Tisch gekehrt. Dass uns die Abhängigkeit insbesondere von Asien irgendwann zum Verhängnis werden könnte, wollte man nicht sehen. Schwierig ist für uns auch die ständige Drohung der Industrie, dass sie sich vom Markt zurückziehen, wenn der Preis nicht stimmt – hier brauchen wir ein Gegenkonzept, sonst drehen wir uns in einer Spirale und sprechen nie über die wirklichen Probleme. Es ärgert mich, dass wir Leistungserbringer die Thematik im Prinzip alleine lösen müssen und dafür noch Kritik einstecken müssen.
Es fehlt Ihnen die Unterstützung des Bundes?
Ja. Was mir beim Thema Medikamentenmangel besonders fehlt, ist Führung. Die Kantone sind zuständig für die Versorgung, der Bund muss die Rahmenbedingungen schaffen. Nun schieben die Beiden das Thema zwischen sich und her und niemand fühlt sich verantwortlich. Dabei erachte ich das als eine typisch staatliche Aufgabe, weil dahinter ein Marktversagen steht. Zugleich sind die langsamen Prozesse ein Problem: es dauert ewig bis ein Problem zur Kenntnis genommen und analysiert wird und bis man schliesslich eine Lösung hat.
Zeichnet sich denn aktuell eine Lösung ab?
Zumindest erkennt der Bundesrat nun den Ernst der Lage, das ist ein Fortschritt. Wichtig ist, dass er die Ärzteschaft und die Apotheken kurzfristig unterstützt, etwa mit administrativen Erleichterungen, zum Beispiel bei der Kostenübernehme für Importe oder bei der Herstellung in der Apotheke. Hier sind die Abläufe viel zu kompliziert und verstärken das Problem noch mehr. Zum Glück zeichnet sich da eine Lösung ab.
Anfang April waren insgesamt 1030 Medikamente nicht lieferbar, auch die Bevölkerung bekommt nun die Folgen zu spüren. Weshalb wurde die Problematik so lange totgeschwiegen?
Bei Medikamenten für chronisch kranke Menschen existierte das Problem von Lieferengpässen schon lange. Nur hat das niemand interessiert, weil es sich um eine kleine Gruppe Betroffener handelte. Nun trifft es auch die 'gesunde' Bevölkerung und die Auswirkungen sind direkt spürbar. So fehlen etwa Blutdruck,- und Cholesterinsenker, Schmerzmittel, Psychopharmaka, Verhütungspillen. Bei chronisch kranken Patienten, die auf viele Medikamente angewiesen sind, muss im Schnitt für ein bis zwei Präparate eine Ersatzlösung gesucht werden.
Wie hoch ist der Aufwand für die Suche nach solchen Ersatzlösungen?
Der Aufwand riesig geworden und wir beschäftigen hier in der Spitalapotheke in Interlaken zwei Mitarbeitende, die den ganzen Tag nur mit dieser Suche beschäftigt sind. Ersatzlösungen müssen immer auch mit den involvierten Ärzten und den Betroffenen abgesprochen werden. Therapien für chronisch Kranke müssen oft umgestellt werden, was auch wieder sehr aufwändig ist.
Und manchmal muss auch auf die Veterinärmedizin zurückgegriffen werden…
Das ist aktuell wieder ein Thema bei einem Wehenmittel, das fehlt. Hier müssen wir, falls es nicht importierbar ist, auf ein Produkt zurückgreifen, das sonst bei Kühen und Pferden angewendet wird. Selbstverständlich werden die Frauen jeweils aufgeklärt und müssen ihr Einverständnis geben. Rein vom Medikament her besteht kein Risiko, aber es ist eine eklige Situation. Wir wissen nie, wie lange ein solches Produkt noch reicht, die Informationen der Firmen sind oft schlecht.
Deshalb haben Sie die Datenbank Drugshortage.ch aufgebaut, die alle Präparate aufführt, die aktuell schwer oder gar nicht erhältlich sind.
Wenn ich etwas nicht bestellen kann, aber weiss, dass es in zwei Wochen wieder lieferbar ist, kann ich mich darauf einstellen. Wenn ich aber keine Informationen habe, sind wir gezwungen sofort zu handeln und Lösungen zu definieren. Ist das Produkt dann in kurzer Zeit wieder verfügbar, hatten wir einen riesen Aufwand für nichts.
Wie ist die Stimmung unter den Apothekern?
Es ist eine starke Solidarität unter den Kollegen spürbar, zugleich ist die Stimmung nicht besonders gut, weil man die ganze Situation satt hat. Insbesondere wenn von den Krankenkassen noch behauptet wird, dass wir uns eine goldene Nase an der Situation verdienen würden. Solche Aussagen sind schlickt inakzeptabel, zumal der ganze organisatorische Aufwand nicht vergütet wird und voll zu Lasten der Leistungserbringer geht. Von der Bevölkerung hingegen ist inzwischen ein grosses Verständnis spürbar.
Sie haben gesagt, dass Sie mit der Datenbank aufhören, wenn die Meldepflicht für alle verschreibungspflichtigen Produkte eingeführt ist - oder bei Ihrer Pensionierung. Was tritt zuerst ein?
Ich habe ja noch gut sieben Jahre Zeit. Ich gehe davon aus, dass die Meldepflicht bis dann eingeführt ist. Die Zeichen stehen gut. Mir geht es diesbezüglich allerdings viel zu langsam und ich würde lieber heute als morgen aufhören.
2008 kämpften Sie an vorderster Front für eine Revision des Heilmittelgesetzes zugunsten der Apotheken – und gewannen. Zwei Jahr später sassen Sie bereits für die BDP im Kantons-parlament. Ist eine politische Rückkehr für Sie denkbar?
Es waren zehn intensive Jahre, die mir in vielen Teilen auch Spass gemacht haben. Aber es gab auch andere Seiten, die weniger schön waren. Deshalb ist die Parteipolitik für mich definitiv abgeschlossen. Was nicht heisst, dass ich politisch nicht Einfluss nehme. Einfach jetzt etwas schmalspurig im Thema der Lieferengpässe. Da profitiere ich von meinem Netzwerk in der Politik. Und genau deshalb ist es mir wichtig, keine Rücksicht auf Parteiinteressen nehmen zu müssen, sondern alleine dem Thema verpflichtet zu sein.
Wie schaltet die Privatperson Enea Martinelli vom Alltag ab?
Ich bin begeisterter (Berg)Läufer und nehme mir jeweils einen Marathon zum Ziel. Das Vorbereitungstraining ist meine persönliche Psychohygiene und ich kann wunderbar abschalten. Auch mein Blog hilft mir – dort kann ich meinem Frust auch mal freien Lauf lassen. Und gemessen an den Reaktionen wird er ja auch gelesen von der Presse und von Behörden, das öffnet manchmal auch Türen.
Viktor 2022
Ein grosser Dank gilt unserem Hauptsponsor und Presenting Partner Johnson & Johnson sowie unseren Sponsoren: Die Post – Gesundheitslogistik, Hirslanden, Level Consulting, Medbase, Takeda sowie vips Vereinigung Pharmafirmen in der Schweiz.