Schlechte Arbeitsbedingungen, Bürokratie und Stress – immer mehr junge Ärzte steigen aus dem Beruf aus. Der VSAO strebt nun eine 42-Stunden-Woche für Assistenzärzte an. Ist das die Lösung?
Ich kann es nicht mehr hören – die armen, leidenden Ärzte, die zu viel arbeiten müssen und als Folge von Übermüdung Fehler machen. Es wird medial ein komplett falsches Bild gezeichnet, das vom VSAO zementiert wird. Unser gesamtes System ist aus dem Gleichgewicht geraten, weil wir den Fokus zu sehr auf die Arbeitszeitregelung und die gesetzlichen Bestimmungen gelegt haben. Das ist der Punkt!
Wo liegt Ihrer Ansicht nach das wahre Problem?
Der VSAO hat zwar viel erreicht, was Arbeitszeitregelung anbelangt, aber nichts erreicht, wenn es um die Organisation der Aus- und Weiterbildung in der Chirurgie geht. Es hat ein destruktiver Prozess eingesetzt und die hohe Ausstiegsrate ist Folge von Frustration.
Frustration, weil die Arbeitszeitdiskussion dazu geführt hat, dass in den letzten 30 Jahren die Stellen auf Assistentenebene etwa verdreifacht wurden?
In der Chirurgie haben die grösseren Kliniken inzwischen bis zu 40 Assistenten. Ein angehender Chirurg möchte im Operationssaal stehen, was bei einer so hohen Assistentenzahl kaum möglich ist. Viele chirurgische Assistenten operieren nur zwei Stunden wöchentlich; die gezielte Förderung fehlt. Die Assistenten stehen also mehrheitlich herum, werden für administrative Arbeiten «missbraucht» und in ihrem Weiterkommen blockiert. Verständlich, dass die Unzufriedenheit wächst.
Othmar Schöb ist Professor für Viszeral- und Thoraxchirurgie an der Klinik Hirslanden und war bereits mit 36 Jahren Chefarzt am Spital Limmattal. Sein Fokus liegt auf der Weiterbildung für chirurgische Fachrichtungen; dazu betreibt er mit dem Chirurgischen Zentrum der Klinik Hirslanden eine privatwirtschaftlich organisierte
Weiterbildungsstätte. Er ist verheiratet, Vater von vier Kindern und begeisterter Alpinist.
Förderlich für die Operations-Qualität ist das sicher auch nicht…
Das System erschwert es, Fachkräfte herauszubringen, die wirklich etwas von ihrem Handwerk verstehen. Wir mussten für unseren Facharzt noch 1000 Operationen machen, heute sind es 350 – Teileingriffe werden auch gezählt. Wenn man als Chirurg nicht im ‘OPs’ steht, wird man kein guter Chirurg. Letztlich ist es ein Handwerk und das lernt man nur, wenn man Handwerk betreibt. Und dafür braucht es zeitlich genügende Exposition!
Stichwort Zeit – Sie haben als junger Assistenzarzt bis zu 100 Stunden gearbeitet. Ein anderes Extrem, oder?
Wir hatten zwar hohe Präsenzzeiten und mussten uns auch mit organisatorischen Mängeln herumschlagen. Aber: Wir waren nur wenige Assistenten und folglich permanent im Operationssaal. Wir wurden gebraucht und waren heiss darauf, unser Handwerk zu lernen. Die hohe Arbeitszeit spielte da keine Rolle, ebenso wenig wie Müdigkeit. Heute wird freiwillige Mehrarbeit bestraft.
50 Wochenstunden und maximal 140 Stunden Überzeit pro Jahr sind zugelassen, sonst droht eine Strafanzeige. In manchen Spitälern werden chirurgische Assistenten mit einwöchigem OP-Verbot bestraft, wenn sie mehr arbeiten. Bei Ihnen sorgt das nur für Kopfschütteln?
Es ist eine komplett absurde Situation. Man muss den Assistenten, im schlimmsten Fall während einer OP, nach Hause schicken, sonst macht man sich strafbar. Es kann doch nicht sein, dass uns ein Berufsverband die Berufung zerstört.
«Die Löhne sind im ganzen Arztberuf unter Druck und generell in der Weiterbildungsphase viel zu tief.»
Es gibt Leute, die möchten mehr arbeiten! Die Arbeitszeit-diskussion ist eine Projektion, die eine völlige Fehlentwicklung ausgelöst hat. Sie hat zur Explosion von Stellenplänen geführt, Ineffizienz entstehen lassen und die Sache qualitativ schlechter und unsicherer gemacht. Ich erlebe das jeden Tag.
Was müsste sich ändern, damit sich die Gesamtsituation verbessert?
Wir müssten die Freiheit haben, unseren Betrieb so zu organisieren, dass man effizient ausbilden kann. Die Weiterbildung und die Vermittlung einer breiten ärztlichen Kunst bleiben aktuell auf der Strecke. Für das sind die gesetzlichen Regulierungen, welche der VSAO vorschreibt, unbrauchbar.
«Ich erlebe viele junge Leute, die darauf brennen, voranzukommen und entsprechend Zeit zu investieren.»
Eine chirurgische Weiterbildung, die gut organisiert und von den gesetzlichen Auflagen befreit ist, kann man in einer 55-Stunden-Woche seriös durchziehen. Alles andere ist zu wenig. Auch über eine faire Entlöhnung sollte diskutiert werden! Die Löhne sind im ganzen Arztberuf unter Druck und generell in der Weiterbildungsphase viel zu tief. Gäbe es eine korrekte Anzahl bei den Weiterbildungskandidaten (rund ein Drittel der heute Beschäftigten) könnte man die Löhne sogar verdoppeln und neben der so erzielbaren Effizienzsteigerung erst noch Geld sparen!
Das 42+4-Konzept des VSAO
Der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte lancierte im Frühjahr 2023 ihre Forderung nach dem
42+4-Prinzip: Danach soll die wöchentliche Arbeitszeit für Assistenzärzte künftig durchschnittlich 42 Stunden Dienstleistung rund um die Patientenbetreuung betragen. Zusätzlich sollen die die Assistenzärzt Anrecht auf wöchentlich mindestens vier Stunden strukturierte Weiterbildung haben. Diese würde ebenfalls als Arbeitszeit gelten.
Ist die heutige Generation überhaupt bereit, soviel Zeit in die Arbeit zu investieren?
Ich erlebe viele junge Leute, die darauf brennen, voranzukommen und entsprechend Zeit zu investieren. Zugleich würde eine gute Selektion stattfinden – zwischen jenen die möchten und jenen, die in einer anderen Fachdisziplin besser aufgehoben sind. Es gibt bestimmt ärztliche Berufe, die man bestens in einer 42-Stunden Woche organisieren kann. Aber in der Chirurgie ist das unmöglich.
Ein vielgenanntes Argument für die Reduktion der Arbeitszeit ist kollektive Übermüdung, welche die Patientensicherheit gefährde. Was sagen Sie dazu?
Es ist ein Mythos, dass Fehler wegen Übermüdung gemacht werden. Vielmehr passieren diese im Schichtwechsel, wenn Informationen verloren gehen und die Kontinuität fehlt. Wir haben praktisch nur noch Schichtwechsel. Wenn ein Assistent die 42-Stunden-Woche einhalten muss, ist er drei Tage die Woche gar nicht da und der Patient sieht jeden Tag einen anderen Arzt.
«So wie es heute läuft, wird unser System Schiffbruch erleiden.»
Folglich braucht es einen ausführlichen Informationsaustausch und lange Rapportzeiten, weil die Kontinuität dauernd unterbrochen wird. Letztlich gefährdet doch der VSAO die Patientensicherheit, weil sie mit ihren rigiden Vorgaben dafür sorgen, dass eine kontinuierliche Versorgung nicht möglich ist.
Stellen Sie einen Generationenkonflikt in der Chirurgie fest?
Es gibt einen Generationenunterschied – die jungen Leute möchten in der Zeit, in der sie arbeiten, relevante Dinge tun und möchten dann auch Freizeit. Wenn man es gut organisieren würde, wäre beides möglich. Es geht aber nicht in einer 42-Stunden-Woche.
Wen sehen Sie nun in der Pflicht zu handeln?
Die Politik kann den Rahmen festlegen, letztlich liegt es aber an den Fachgesellschaften, dem VSAO die Stirn zu bieten. So wie es heute läuft, wird unser System Schiffbruch erleiden. Der VSAO müsste dringend die Überzeitenregelung (max. 140-Stunden pro Jahr) abschaffen. Denn diese Regel besagt, dass jede Stunde über 50h/Woche als Überzeit gilt und nicht kompensiert werden kann. Diese Regel verkompliziert den Dienstplan massiv.
Inwiefern?
Wenn beispielsweise ein Assistenzarzt in einer Woche Dienst hat mit Einsätzen, die über die normale Arbeitszeit hinaus gehen und so auf 58 Stunden kommt, kann er diese 8 Überstunden in der nächsten Woche nicht kompensieren in dem er nur 42 Stunden arbeitet. Alle Überstunden über 50 Stunden pro Woche werden kumuliert und sind nur bis max. 140 Stunden pro Jahr zugelassen, auch wenn der Assistenzarzt übers Jahr verteilt keine Überstunden oder sogar Minusstunden gemacht hat.
«Die Anzahl der Weiterbildungskandidaten ist heute zu hoch. Und nach zwei Jahren steigt ein Grossteil aus der Chirurgie aus.»
Wenn diese Regel abgeschafft würde, wie das bereits in der Gastronomie der Fall ist, wäre auch in der Chirurgie eine 50 Stunden-Woche machbar. Denn ein Chirurg macht in einer Dienstwoche in der Regel immer Überstunden, welche dann aber in einer Nicht-Dienstwoche gut kompensiert werden könnten.
Zum Schluss: Wie könnte die medizinische Ausbildung in Zukunft wieder effizienter gestaltet und der Arztberuf attraktiver gemacht werden?
Wir haben heute viermal mehr Mediziner als noch vor 30 Jahren und folglich viel höhere Kosten bei sinkender Qualität. In Zukunft müssten weniger Chirurgen ausgebildet werden: nur jene, die es wirklich braucht. Die Anzahl der Weiterbildungskandidaten ist heute zu hoch und nach zwei Jahren steigt ein Grossteil aus der Chirurgie aus. Dabei geht viel Ausbildungssubstanz für jene verloren, die wirklich geeignet sind für den Beruf. Ich plädiere deshalb für ein System, bei dem man im ersten Jahr den ‘Spreu vom Weizen’ trennt, sprich nur jene Leute weitermachen lässt, die wirklich geeignet sind. Diese sollten dann auch entsprechend gefördert werden.