Über 7000 seltene Krankheiten sind bekannt, rund 500'000 Menschen sind schweizweit davon betroffen. Trotz dieser gewaltigen Zahl sind seltene Krankheiten gesellschaftlich weitgehend unsichtbar. Wie erleben Sie das?
Nicht nur gesellschaftlich sind sie unsichtbar, sondern oftmals auch in unserem Gesundheitssystem. Das führt dazu, dass sich die Betroffenen oft sehr isoliert fühlen. Diese Menschen und die Herausforderungen, welche in Zusammenhang mit den seltenen Krankheiten stehen, wollen wir am Internationalen Tag der seltenen Krankheiten sichtbar machen und gleichzeitig die Isolation der Betroffenen durchbrechen.
Wird in der Schweiz genug für Menschen mit seltenen Krankheiten getan?
Tatsächlich gibt es bei der Versorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten noch immer eine Unterversorgung oder Fehlversorgung. Dies wurde politisch anerkannt, sie zu beheben benötigt jedoch Zeit.
Dabei verabschiedete der Bundesrat bereits 2014 das Nationale Konzept seltene Krankheiten ...
Ebenso wurde 2017 die Nationale Koordination seltene Krankheiten (Kosek) gegründet, später wurde das Schweizer Register für seltene Krankheiten ins Leben gerufen. Es befinden sich also mehrere Massnahmen in der Umsetzung, um die Versorgung zu verbessern. Das Problem ist, dass die Herausforderungen auf verschiedenen Ebenen zu lösen sind.
Welche Herausforderungen sprechen Sie hier konkret an?
Zum einen werden seltene Krankheiten oft spät diagnostiziert. Die Informationssuche und die Versorgung selbst sind oft eine Herausforderung, weil auch die Information und die Expertise selten oder nicht immer bekannt sind. Zum anderen ist die Finanzierung eine Hürde: Oft bedarf es einer vertieften Recherche über die Krankheit, spezifischer Gutachten und aufwändiger Kostengutspracheverfahren bei den Versicherern.
«Da es für 95 Prozent der seltenen Krankheiten keine Therapien gibt, sind Betroffene oft damit konfrontiert, dass Abklärungen von den Krankenkassen nicht übernommen werden.»
Für die Versorgungsstellen gibt es zusätzlich das Problem, dass seltene Krankheiten im Klassifikationssystem ICD-10 nicht genügend abgebildet sind. Sie müssen also spezielle Codes (sogenannte Orphacodes) anwenden, um diese Personen im System überhaupt sichtbar zu machen.
Eine grosse Hürde liegt auch bei der Diagnosestellung; viele Betroffene durchlaufen eine jahrelange Ärzteodyssee. Hat sich die Situation durch die «Zentren für seltene Krankheiten» verbessert?
Diese Zentren sind Anlaufstellen für Menschen ohne Diagnose und verfolgen das Ziel, die Zeit bis zur Diagnose zu verkürzen. Innerhalb ihres Spitals sind sie recht gut bekannt, weil sie dort die vorhandene Expertise bündeln. Niedergelassene Spezialisten kennen dieses Angebot, welches sie entlasten kann, jedoch noch nicht systematisch. Auch bei Menschen ohne Diagnose oder Betroffenen mit Diagnose einer seltenen Krankheit ist das Angebot noch zu wenig bekannt.
Seltene Krankheiten sind oft komplexe, lebensbedrohliche oder chronisch invalidisierende Krankheiten. Rund Dreiviertel dieser Krankheiten treten bereits bei Geburt oder im Kindesalter auf und sind genetisch bedingt. Sie werden jedoch aufgrund ihrer Seltenheit nicht immer sofort erkannt.
Eine schnellere Diagnosestellung ist das Ziel, zugleich scheitern weitere Abklärungen aber oft an den Krankenversicherern. Wie ist das zu erklären?
Diagnostische Analysen werden von der Krankenversicherung nicht vergütet, wenn für eine Krankheit keine anerkannte Therapie besteht. Da es für 95 Prozent der seltenen Krankheiten keine Therapien gibt, sind Betroffene oft damit konfrontiert, dass diagnostische Abklärungen von den Krankenkassen nicht übernommen werden.
Welche Fortschritte werden derzeit in der Forschung erzielt?
Aufgrund der Seltenheit der Krankheiten läuft in der Forschung viel auf internationaler Ebene, z. B. im European Joint Programme for Rare Diseases. Diese Informationen werden alle auf Orphanet, einer internationalen Wissensdatenbank, gesammelt und sind dort für alle frei zugänglich. Die Vernetzung zwischen allen Akteuren im Bereich der seltenen Krankheiten ist hier zentral. In der Schweiz soll in Zukunft das Schweizerische Register für seltene Krankheiten eine Grundlage für die Forschung legen und die Teilnahme von Schweizer Patienten an Studien in der Schweiz wie an internationaler Forschung ermöglichen. Das Register ist derzeit im Aufbau und Patienten können sich selbst registrieren
Die Aufgaben von Kosek Schweiz
Die
Nationale Koordination Seltene Krankheiten Kosek widmet sich dem Ziel 1 des Nationalen Konzepts und dabei spezifisch bei der Umsetzung der Massnahme der Schaffung und Anerkennung von Versorgungsangeboten. Seit Juni 2021 gibt es in der Schweiz neun von der «Kosek» anerkannte diagnostische Zentren. Damit hat die «Kosek» einen ersten Teil des Bundeskonzepts Seltene Krankheiten umgesetzt, das 2014 beschlossen wurde. Das Ziel der Kosek und der Zentren in Aarau, Basel, Bern, Tessin, Genf, Lausanne, Luzern, St. Gallen und Zürich ist, die Situation für Patienten mit einer seltenen Krankheit zu verbessern.