Gesundheit ist das höchste Gut, wird oft gesagt. Gesundheit! wünschen wir uns beim Niesen, zum Geburtstag, zum Neuen Jahr, beim Anstossen in geselliger Runde. Doch welche Investitionen sind wir für dieses hohe Gut bereit zu tätigen?
Ich höre jeweils mit grossen Augen zu, wie die geladenen Akteure der Gesundheitsversorgung in der Schweiz sich in der nationalrätlichen Kommission für Gesundheit gegenseitig die Verantwortung zuschieben. Die Leistungserbringenden; die Versicherungen; die Politik; die Leistungsnehmenden: sie alle sehen den dringenden Reformbedarf… bei den Anderen.
In der Gesundheitsversorgung haben wir verlernt, die Chancen einer föderalistischen Organisation mit einer Vielzahl von Akteuren positiv zu nutzen. Wie beim Subsidiaritätsprinzip bietet sich die Chance, zielgerichtet, flexibel und bedarfsgerecht zu handeln, Wettbewerb zuzulassen, wo er nützlich ist und rasch zu reagieren auf veränderte Rahmenbedingungen. Aber das funktioniert nur, wenn allen Akteuren zu jedem Zeitpunkt bewusst ist, dass es ihre Verantwortung ist, das grosse Gesamte im Blick zu behalten. Sie müssen bereit sein, sich zu verändern. Ansonsten blockiert uns der teure Reformstau immer weiter.
Nicht nur bei der Versorgungsorganisation, auch bei der Versorgung selbst fand lange Zeit eine Zersplitterung mit wenig Gesamtsicht statt. Der immense Spezialisierungsgrad der modernen Medizin stellt ganz neue Anforderungen. Wir verdanken der Vertiefung des Wissens längere und gesündere Leben. Aber es ist auch aufwändiger, das viele Wissen zu verknüpfen für ein effektives Gesundheitsverständnis.
«Die Ansprüche an eine integrierte und koordinierte Gesundheitsversorgung sind gestiegen, und wir können sie ehrlich gesagt noch nicht erfüllen.»
Als ich jünger war, behandelte man Symptome als isoliert gestörte Funktionen. Heute versteht man Gesundheit als komplexes System nicht nur des Körpers, sondern in Verbindung mit Geist, Umfeld und Lebensumständen. Die Ansprüche an eine integrierte und koordinierte Gesundheitsversorgung sind also gestiegen, und wir können sie ehrlich gesagt noch nicht erfüllen.
Was müssen wir also tun, um die Chancen zu nutzen und den Reformstau zu überwinden? Wir müssen investieren in Digitalisierung. Verknüpftes, individuelles Wissen, das uns das schnelle Rechnen von Computern ermöglicht, kann uns helfen, Gesundheitsdaten zu ordnen und zu interpretieren. Somit können Effizienz und Qualität der Versorgung erhöht, und schädliche Doppelspurigkeiten vermieden werden.
Wir müssen investieren in die bessere Koordination von Bedürfnissen und Leistungen: die Vor- und vor allem die vernachlässigte Nachsorgekompetenz muss gesteigert werden, um insbesondere chronisches Leiden zu vermeiden oder zu lindern. Bessere Schnittstellenkoordination erleichtert zudem die würdevolle Gestaltung des Lebensabend im hohen Alter unter Einbezug des Umfelds.
Wir müssen investieren in Qualität statt Quantität: nicht nur die Entschädigungssystematik gibt Fehlanreize, auch unser Verständnis von Fürsorge stützt auf Quantität statt Qualität. Und schliesslich braucht es einen Kulturwandel, der unseren Umgang mit Leiden und Sterben wieder als Teil eines Menschenlebens anerkennt.
«Es braucht einen Kulturwandel, der unseren Umgang mit Leiden und Sterben wieder als Teil eines Menschenlebens anerkennt.»
Wir müssen vor allem aber investieren in einen Kulturwandel im Bezug auf die Gestaltung von sinnhaften Rahmenbedingungen für jedes aktive Lebensalter und künftige Generationen. Das grösste akute Problem des Gesundheitswesens ist der Arbeitskräftemangel. Eines muss uns bewusst sein: der Arbeitskräftemangel ist zu grossen Teilen eine Folge der Demografie, so, wie auch die steigenden Krankenkassenprämien eine Folge der Demografie sind.
Die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer werden nicht nur pensioniert und sind somit nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt verfügbar, sondern mit steigendem Alter nimmt automatisch der Bedarf an medizinischen Leistungen zu. Dies geschieht nicht erst im hohen pflegebedürftigen Alter, gegen Ende des Lebens, sondern auch im neuen Lebensalter der vitalen zwei Dekaden ab 60.
Wir werden also länger älter, was dazu führt, dass die relative und absolute Menge an medizinischem Versorgungsbedarf zunimmt. Es kostet Zeit und Können, diesen Versorgungsbedarf zu decken. Das kostet also nicht nur Franken, sondern heisst auch, dass diese Arbeitskräfte an einem anderen Ort nicht verfügbar sind: in der Kinder- oder Altenbetreuung, in der Milizpolitik oder Nachbarschaftshilfe und beim Wanderwegepflegen. Für die ganzheitliche Gesamtsicht von Gesundheit als Funktion von Körper, Geist und Umfeld ist die Investition in diesen Kulturwandel also zukunftsweisend – genauso wie für eine funktionierende Gesundheitsversorgung.