Herr Marty, eine Volksinitiative der Mitte will Gesundheitskosten senken, und eine Initiative der SP will Haushalte mit tieferen Einkommen entlasten. Was halten Sie davon?
Beide Initiativen lehne ich dezidiert ab. Gegenüber der Initiative der Mitte-Partei, die Grenzwerte und Kostenziele festsetzen will, bin ich aber noch kritischer eingestellt als gegenüber der SP-Initiative.
Ein Liberaler bekundet mehr Sympathie für eine Initiative der Linken?
Sie macht im gesundheitspolitischen Prozess mehr Sinn. Was diskutieren wir auf Bundesebene? Das Krankenversicherungs-Gesetz, das KVG. Es ist im Wesentlichen ein Finanzierungsgesetz. Es sagt, wie das Gesundheitswesen zu finanzieren ist. Hier setzt die SP mit ihrer Prämien-Entlastungsinitiative an, indem sie sagt, die Krankenkassenprämie für die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) dürfe 10 Prozent des Einkommens nicht übersteigen. Das ist ein urpolitisches Thema. Es macht durchaus Sinn, darüber zu diskutieren. Was nicht heisst, dass ich die Initiative unterstütze.
Warum nicht?
Sie geht mir zu weit. Ich habe nicht das Gefühl, dass das Problem derart gross ist, dass man Prämien für tiefere Einkommen so stark senken muss. Die schwächeren Haushalte werden heute genügend entlastet. Die Leute müssen merken, dass das System etwas kostet. Wenn aber die Leute immer mehr entlastet und die Kosten vergemeinschaftet werden, fehlt der Kostendruck. Das wäre nicht gut für die Effizienz. Also nochmals: Es ist ein vernünftiger Vorschlag.
Und ist die Initiative der Mitte-Partei unvernünftig?
Ja, sie greift in die Medizin ein. Das ist falsch. Was passiert bei einem Ja? Es gibt einen runden Tisch. Es wird verhandelt. Das führt zu einem Basar über die medizinische Versorgung. Die strukturschwachen Bereiche werden die Gewinner sein. Die boomenden Bereiche wiederum werden gedrückt. Das ist schlecht für die Innovationsfähigkeit des Systems. Die Politik sollte sich nicht in medizinische Fragen einmischen. Sie soll die Finanzierung regeln, so wie das die SP mit ihrer Initiative bezweckt.
Die Politik macht ja dauernd medizinische Vorgaben. Siehe Avos, «ambulant vor stationär», die neue 18er-Liste mit den Eingriffen, die nur noch ambulant durchgeführt werden dürfen.
Ja, leider. Solche Eingriffe führen meist zu Ausweichreaktionen, welche das System teuer und administrativ ineffizient machen. Will man mehr ambulante statt stationäre Leistungen soll man das über den Tarif stimulieren und nicht über Verbotslisten.
Doch eigentlich will die SP nichts anderes als einkommensabhängige Prämien für alle.
Das wäre falsch. Der Prämiendruck ist wichtig für die Effizienz des Systems. Wenn Personen mit kleinen Einkommen nur noch extrem tiefe Prämien bezahlen müssen, weil die Reichen ja viel mehr bezahlen, so fehlt der Druck, dann ist der Solidaritätsbeitrag zu hoch.
Ist die Zweiteilung überhaupt sinnvoll? Einkommensabhängige Prämien für schwache Haushalte; Kopfprämie für weniger schwache Haushalte?
Bei einem Aufnahmezwang und einer Einheitsprämie geht es nicht ohne Entlastung der einkommensschwachen Haushalte. Sonst müssten Personen mit tiefen Einkommen einen zu hohen Anteil ihres Einkommens für Krankenkassenprämien aufwenden. Also muss man über Prämienverbilligungen einen einkommensabhängigen Teil machen. Das ist im Geist eines regulierten Wettbewerbs.
Dieser einkommensabhängige Teil steigt aber von Jahr zu Jahr.
Das ist aus meiner Sicht ebenfalls in Ordnung. Meine Eltern zahlten in den 60er-Jahren für ihre Stereoanlage noch 2000 Franken bei einem Einkommen von 1000 Franken pro Monat. Heute sind elektronische Geräte viel billiger als früher. Der Anteil der Gesundheitskosten am Haushaltsbudget wird steigen. Es ist aber meines Erachtens nicht gerechtfertigt, diesen auf 10 Prozent zu plafonieren. Aber eigentlich haben wir nicht ein Kostenproblem, sondern ein Versorgungsproblem.
Sie meinen den Fachkräftemangel?
Ja, aber nicht nur. Die demografische Entwicklung macht Druck auf der Angebots- wie auf der Nachfrageseite. Der Klassiker ist der Hausarzt mit eigener Praxis und seiner 80-Stunden-Woche. Es braucht heute mehr als zwei Fachleute, um ihn zu ersetzen. Die heutigen Fachleute sind nicht mehr bereit, so viele Stunden zu investieren, sie arbeiten lieber Teilzeit. Zudem setzt man mit medizinischen Vorgaben das System unter Druck. Die administrative Belastung wird höher und benötigt im Backoffice Fachkräfte, die früher oft direkten Patientenkontakt hatten.
Und dann kommt noch der Druck auf der Nachfrageseite hinzu?
Die zahlenmässig grossen Jahrgänge werden immer älter und benötigen naturgemäss mehr Leistungen. Hinzu kommt, dass der Fachkräftemangel nicht ein schweizerisches Phänomen ist. Die umliegenden Länder haben das gleiche Problem. Wir können nicht Jahr für Jahr Fachkräfte aus dem Ausland rekrutieren. Die Deutschen haben die Löhne bereits angepasst. Das Lohngefälle ist kleiner geworden und damit auch der Anreiz, in die Schweiz arbeiten zu kommen. Von den Versorgungsproblemen bei den Medikamenten und den Medtech-Produkten haben wir noch gar nicht gesprochen. Aber das grösste Problem ist schon der Fachkräftemangel.
Das ist bekannt. Was ist die Lösung?
Ausbilden, ausbilden, ausbilden, aber auch umschulen und das brachliegende Potenzial nutzen. Es kann doch nicht sein, dass laufend Pflegefachleute ihrem Beruf den Rücken kehren.
Die Ausbildungsoffensive läuft. Sie wirkt nicht von heute auf morgen.
Flexibilität ist das Wichtigste. Jeder, der sich mit der Problematik befasst, weiss Ihnen eine Anekdote zu erzählen.
Welche Anekdote erzählen Sie?
Ich kenne einen konkreten Fall: Eine Mutter mit zwei schulpflichtigen Kindern wollte wieder in den Pflegeberuf einsteigen. Sie stellte Bedingungen, damit sie Beruf und Mutterpflichten unter einen Hut bringt. Die Führungsperson in der Pflege sagte: «Nein, es gibt keine Ausnahmen bei uns.»
Das sind Einzelfälle.
Nein, überhaupt nicht. Die Pflege ist zu stark gewerkschaftlich organisiert. Sie haben starre Lohnsysteme. Das ist nicht gut. Man muss Leistung honorieren können. Und man muss flexibel sein können. Die Arbeitskräfte von heute sind nicht bereit, Null-acht-fünfzehn-Jobs zu machen. Vor allem dann nicht, wenn sie Kinder haben.
Mehr Flexibilität kostet Geld. Das heisst: höhere Personalkosten.
Das ist unbestritten.
Rund 70 Prozent der Gesamtkosten entfallen bei einem Spital aufs Personal. Wie sollen Spitäler höhere Personalkosten stemmen, wenn die Mehrheit der Spitäler schon heute angeblich zu tiefe Renditen erwirtschaftet, um den Refinanzierungsbedarf zu decken?
Man kann nicht die gleichen Tarife haben für ein anderes, teureres Gut. Wir haben heute andere Arbeitnehmer mit anderen Bedürfnissen. Die Spitäler sind Dienstleistungsbetriebe. Sie haben naturgemäss hohe Personalkosten.
Sie plädieren für höhere Tarife? Also müssten Fallpauschale oder Baserate angepasst werden.
Wir werden kaum darum herumkommen. Wobei ich eher bei den Fallpauschalen ansetzen würde. Ich höre immer wieder, dass es unterfinanzierte Bereiche gibt, bei denen Anpassungen nötig wären.
Fridolin Marty, Jahrgang 1969, leitet seit 2008 die Gesundheitspolitik bei Economiesuisse. Vorher war er während acht Jahren Projektleiter bei Santésuisse.