Letztes Wochenende siegte am nationalen Einzelzeitfahren in Thun die schnellste Ärztin der Schweiz: Marlen Reusser. Die 27-Jährige aus dem Bernischen Hindelbank hat erst vor zwei Jahren richtig zum Radsport gefunden. 2017 wurde sie mit grossem Vorsprung Schweizer Meisterin im Zeitfahren und Vize-Meisterin im Strassenrennen. Fast gleichzeitig hatte sie ihr Staatsexamen bestanden.
Halbzeitig im Operationsaal in Langnau, halbzeitig im Velosattel
Der gleichzeitige Einstieg in ihre beiden Karrieren war streng: Wenn sie nicht auf dem Velo sass, arbeitete sie als Assistenzärztin auf der Chirurgie des Regionalspitals Emmental in Langnau. Die Spitalleitung erlaubte ihr ein 50-Prozent-Pensum, damit sie genug Zeit für den Sport hatte. «Am meisten vermisse ich ruhige Tage ohne Programm», sagte sie in einem Interview mit «Datasport».
Trotzdem blieb sie bis im Februar 2019 bei ihrer Doppelrolle als Ärztin und Elite-Sportlerin. «Nach viel Sport habe ich Lust, mich wieder einer kopflastigen und ganz anderen Tätigkeit widmen zu können. Umgekehrt freut es mich nach strengen Arbeitstagen, voll in den Sport zu tauchen», begründete sie das vor einem Jahr.
«Mit Superfood machen sich viele Menschen verrückt»
Doch seit drei Monaten setzt sie nun voll auf den Sport und hat ihre ärztliche Tätigkeit vorläufig aufgegeben. Dass sie Ärztin ist, zeigt sich allerdings auch in ihrem Leben als Profisportlerin deutlich. Von Protein- und Superfood hält sie wenig. Damit würden sich viele Menschen verrückt machen, findet sie. «Und die Industrie lacht sich ins Fäustchen. Alles kann man mit Extra-Protein kaufen, sogar Kaffee», wundert sie sich.
Marlen Reusser ist seit Kindesbeinen Vegetarierin und ernährt sich regional und saisonal. «Ich esse nach Lust und Laune und habe grosse Freude daran», sagte sie. Zur Erholung bade sie ihre Beine gerne in eiskaltem Wasser oder strecke sie nach oben.
Nach Sturz: Schwerer Beckenringbruch
Doch auch eine Gesundheitsexpertin ist nicht vor Unfällen gefeit: Vor einem Jahr stürzte sie bei einem Velorennen. Die Diagnose: Dreifache instabile Beckenringfraktur. Die viermonatige Heilungszeit nahm sie ohne langes Hadern hin. Sie freute sich sogar richtig auf den Wiederaufbau ihrer Form. «Es ist ein schönes Projekt, einen degenerierten Körper wieder auf Top-Niveau zu bringen und für mich auch als Medizinerin spannend.»
Doch vorerst steht sie nun nicht mehr in Operationssälen, sondern sitzt fest im Velosattel. Sie möchte als Radfahrerin etwas bewegen, sagte sie gegenüber der «Berner Zeitung». Sie ist sich bei allem Erfolg, den sie hat, bewusst: «In der Schweiz bin ich bloss herausragend, weil es fast keine Frauen in diesem Sport gibt.»
Velofahren ist eine tolle Sache
Dabei sei Velofahren auch als Verkehrsmittel oder für die Gesundheit eine tolle Sache. Sie ist überzeugt, dass viele Frauen schnell auf dem Velo wären. «Aber viele trauen sich nicht, an Rennen teilzunehmen.» Sie hofft, dass sie Nachahmerinnen findet und die Kultur des Radsports auflebt.