Einem Zeugen Jehovas war letztes Jahr in einem Berner Listenspital ein ärztlich verordneter Bandscheiben-Eingriff von der Spitalleitung verweigert worden: Der Mann wollte – im Notfall – auf Bluttransfusionen verzichten und stellte dies im Vorfeld auch klar. Deshalb sperrte sich das Spital und untersagte seinem behandelnden Arzt den Eingriff im Haus. Der Belegarzt seinerseits erklärte, dass für einen solchen Eingriff noch nie eine Bluttransfusion erforderlich war und führte die Operation in einer anderen Klinik durch.
Der Patient reichte danach bei der Staatsanwalt Biel-Seeland Strafanzeige ein: Die Vorwürfe lauteten auf Rassendiskriminierung – dieser Straftatbestand schliesst religiöse Diskriminierung ein –, Aussetzung, versuchter Nötigung und Widerhandlung gegen das Spitalversorgungsgesetz. Doch die Staatsanwaltschaft lehnte es ab, darauf einzugehen, worauf der Zeuge Jehovas ans Berner Obergericht gelangte. Dieses unterstützte Mitte Mai die so genannte Nichtanhandnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft.
Dabei lehnte das Gericht die Behandlungspflicht eines Listenspitals in solchen Fällen ab. Diese Pflicht entscheide sich nach medizinischen Gesichtspunkten: «Die Weigerung, eine elektive operative Behandlung unter der Voraussetzung des absoluten Verzichts auf die Gabe von Blut- oder Blutprodukten durchzuführen, lässt sich medizinisch bzw. medizinethisch begründen», so das Urteil.
Bei planbaren Eingriffen habe ein Spital also die Freiheit, zu entscheiden, ob eine Behandlung unter den gewünschten Rahmenbedingungen vertretbar ist oder nicht. Zeugen Jehovas hätten bei planbaren Eingriffen keinen unbedingten Anspruch auf «blutlose» Chirurgie: «Diese steht stets unter dem Vorbehalt einer positiven Risiko-Nutzen-Analyse und der ethischen Bereitschaft der behandelnden Fachperson».
Der Patient und sein Anwalt ziehen den Fall nun aber weiter – und gelangen ans Bundesgericht.
Weshalb? Dies der Beitrag von
Haykaz Zoryan: Der Thuner Rechtsanwalt vertritt den Zeugen Jehovas.
—
«Das Obergericht hat in fragwürdiger Weise entschieden, dass ohne Untersuchung des Sachverhaltes und näherer rechtlicher Prüfung durch das zuständige Sachgericht der Rechtsweg vollständig ausgeschlossen werden soll. Mit anderen Worten: Das Obergericht hat entschieden, dass meinem Klienten der Zugang zum Gericht versperrt bleiben sollte.
Das geschilderte Gewissensproblem und Dilemma des Arztes lag in diesem Fall gerade nicht vor. Der Arzt und der Patient wollten eine standardmässige Behandlung, wie alle anderen Bandscheibenpatienten auch, und zwar ohne eine medizinisch nicht notwendige Bluttransfusion. Nur die administrative Spitalleitung verbot ihnen, diese Behandlung zu erhalten. Das ist ein entscheidender Punkt, dem der Beschluss des Obergerichts zu wenig Rechnung tragen.
Haykaz Zoryan
Haykaz Zoryan ist selbstständiger Rechtsanwalt in Thun. Er studierte und promovierte in Bern. In seiner Karriere war er unter anderem für das Bundesamt für Informatik sowie als wissenschaftlicher Assistent am Institut für öffentliches Recht der Uni Bern tätig.
Selbstverständlich ist: Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die Gewissensfreiheit des Arztes sind in der Schweiz verfassungsmässig geschützte Rechte. Diese beiden Grundrechte kollidierten in diesem Fall nicht. Dies macht das von der Spitalleitung ausgesprochene Behandlungsverbot besonders krass.
Denn wenn verfassungsmässig zugesicherte Rechte nur selektiv gewährt werden, dann stellt das eine klassische Form der Diskriminierung dar. Im vorliegenden Fall wurde dem Arzt und dem Patienten nicht nur allein aufgrund dessen Religionszugehörigkeit die absolut gleiche Routinebehandlung verweigert, die jeder andere Patient erhalten hätte, sondern auch der Rechtsweg verschlossen.
Kein Dilemma, keine Kollision der Grundrechte
Nur nebenbei bemerkt: In einem Rechtsstaat ist es sehr heikel, wenn das Spital dem Arzt ein Gewissen vorzuschreiben versucht, denn ein kollektives Gewissen gibt es in einem Rechtsstaat nicht. Es ist ein Widerspruch in sich, weil die verfassungsmässig garantierte Gewissensfreiheit immer individuell ist.
Vor diesem Hintergrund fragt man sich: Kann wirklich mit Bestimmtheit gesagt werden, dass das Behandlungsverbot durch das betreffende Spital rechtens war, wie in der Presse suggeriert wurde? Ist es tatsächlich eines Rechtsstaates würdig, eine bestimmte Bevölkerungsgruppe vom Erhalt standardmässiger medizinischer Leistungen auszuschliessen?