Das Ausmass der Honorar-Affäre am Kantonsspital Aarau (KSA) ist offenbar weitaus grösser,
als es bisher der Öffentlichkeit bekannt war. Dies berichtet die «Aargauer Zeitung» am Donnerstag. Der Chefarzt der Angiologie habe
«Leistungen auf sich erfasst, die er nicht selber erbracht hat». Die Zeitung stützt sich dabei auf einen externen Revisionsbericht der Firma AWB Aarau.
Konkret seien Leistungen von Assistenz- und Oberärzten auf den Chefarzt erfasst worden. Zudem «wurden während seiner Abwesenheit insgesamt 507 Sitzungen auf seinen Namen abgerechnet.» Es handelt sich insgesamt um einen vierstelligen Betrag.
Und weiter: «Die Häufigkeit der festgestellten Abweichungen deutet auf einen systematischen Vorgang hin», so das Fazit der Wirtschaftsprüfer. Anders ausgedrückt: Es handelt sich bei den falschen Abrechnungen also nicht um vereinzelte Fälle ohne Muster.
Noch mehr Tricksereien?
Die Stichprobenprüfung der externen Revisoren umfasst Daten aus den Jahren 2014 und 2015. Dabei wurde die gesamte Zeitperiode untersucht, seit das System für Honorarpools gilt.
Der Mediziner arbeitet aber seit 2001 als Chefarzt am KSA. Geht man davon aus, dass er über die ganze Anstellungszeit hinweg im ähnlichen Ausmass falsch abrechnete, würden sich wahrscheinlich noch mehr Fälle ergeben.
Statt an das KSA ging das Geld an den Chefarzt
Wenn ein Chefarzt oder Leitender Arzt eine medizinische Leistung erbringt, fliessen 82,5 Prozent des Honorars in den Pool, 17,5 Prozent gehen ans KSA. Nimmt ein Oberarzt oder ein Assistenzarzt die Behandlung vor, gehen nur 9 Prozent in den Pool, die restlichen 91 Prozent erhält das Spital.
Rechnet ein Chefarzt nun die Leistungen auf sich ab, die in Tat und Wahrheit ein Oberarzt erbracht hat, entgehen dem Spital so Einnahmen,
wie die «Aargauer Zeitung» detailliert erklärt. Laut dem Revisionsbericht der externen Prüfer von AWB Aarau wurde der Pool in diversen Fällen jeweils
«um 73,5 Prozent zu hoch gespeist.» Das heisst: Geld, das eigentlich dem Spital zusteht, floss in den
Honorarpool – und später aufs Lohnkonto des fehlbaren Chefarztes.
Kein strafrechtlich relevantes Verhalten
Für den fehlbaren Aargauer Chefarzt hatte sein Verhalten Folgen: Er kassierte eine Verwarnung und musste einen Betrag unter 10'000 Franken zurückzahlen, sagt die neue Spitalsprecherin Isabelle Wenzinger der Zeitung.
«Insbesondere für Dritte» sei ferner kein Schaden entstanden – «weder für Patienten noch für Versicherer», heisst es weiter. Die Aargauer Regierung und das KSA wollen nicht von einer Manipulation sprechen, sondern bevorzugen die Bezeichnung Fehlerfassung von Einzelleistungen.
Strafrechtlich kann dem Chefarzt darüber hinaus nichts vorgeworfen werden: In einem Schreiben an den Regierungsrat hielt die Oberstaatsanwaltschaft fest, «dass nach sorgfältiger Prüfung kein strafrechtlich relevantes Verhalten nachgewiesen werden kann und darum kein Straftatbestand vorlag».
Hinweise von anderen Ärzten
Die ersten Hinweise auf Unregelmässigkeiten bei den Abrechnungen des Chefarztes seien von anderen Ärzten gekommen, sagt Wenzinger der AZ weiter. Das KSA räumte bereits im März ein, dass ein Arzt in den vergangenen drei Jahren falsch abgerechnet hatte. In einer Antwort auf einen parlamentarischen Vorstoss gab der Regierungsrat zudem am Freitag bekannt, es habe sogar zwei solcher Fälle am KSA gegeben.
Laut dem Bericht in der «Aargauer Zeitung» wussten Spitalleitung, Verwaltungsrat und Gesundheitsdepartement Bescheid. Hält der Kanton das Vorgehen gegen den fehlbaren Chefarzt für angemessen? Die zuständige Sprecherin Karin Müller liess gegenüber der Zeitung verlauten: «Es ist Aufgabe des Verwaltungsrats und der Geschäftsleitung des KSA als eigenständige Aktiengesellschaft, diese Sache zu regeln.»
Chefarzt wollte Ärztekonferenz-Präsident werden
Der fehlbare Chefarzt war
laut einem früheren Bericht der AZ ursprünglich für das Präsidium der Ärztekonferenz am KSA vorgesehen. Der Präsident der Ärztekonferenz ist Vertreter der Chefärzte und Leitenden Ärzte in der Geschäftsleitung des Spitals.
Als die Sache mit den Abrechnungen bekannt wurde, traf sich die Konferenz zu einer Sondersitzung. Der fehlbare Arzt sei dabei gewesen und habe sich den Fragen der Kollegen gestellt, zitierte die Zeitung eine involvierte Person. Nach längerer Diskussion kam die Ärztekonferenz dann aber zum Schluss, «dass es besser wäre, einen anderen Kandidaten zu haben».
Der erst als Präsident vorgesehene Arzt habe das eingesehen und die Kandidatur zurückgezogen, heisst es weiter. Ende Mai wurde schliesslich Monya Tedesco, Chefärztin Geburtshilfe und Perinatalmedizin, in geheimer Wahl als neue Präsidentin gewählt.