Das menschliche Gehirn ist das wohl komplexeste Organ in der Natur – es beschäftigt die Forschung seit langem. Allerdings ist die Erforschung des Gehirns, insbesondere welche Gene und molekularen Schalter dessen Entwicklung regulieren und lenken, alles andere als einfach. Bisher haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Tiermodelle, vor allem Mäuse, für ihre Arbeit verwendet. Die Krux: Die Erkenntnisse lassen sich nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Einerseits, weil das Mäusegehirn anders aufgebaut ist und ihm andererseits für das Gehirn des Menschen typische gefurchte Oberfläche fehlt. Auch Zellkulturen waren bislang nur bedingt geeignet.
Um die Entwicklung des menschlichen Gehirns zu erforschen, hat eine Gruppe von Forschenden um Barbara Treutlein, ETH-Professorin am Departement Biosysteme in Basel, einen neuen Weg beschritten.
Mit dem richtigen Reiz
Sie züchtet und nutzt sogannte Organoide. Dabei handelt es sich um millimetergrosse dreidimensionale Gewebeklümpchen, die sich aus sogenannten pluripotenten Stammzellen heranziehen lassen. Pluripotente Stammzellen sind Stammzellen, die zwei oder mehrere unterschiedlich differenzierte Zellen bilden können.
Erhalten diese Stammzellen den richtigen Reiz (Stimulus), können Forschende sie so programmieren, dass sie zu jeder beliebigen Körperzelle werden, also auch zu Nervenzellen.
Mehr noch: Werden die Stammzellen in einem kleinen Gewebeball aggregiert und dann dem entsprechenden Stimulus ausgesetzt, können sich diese sogar selbstorganisieren und ein dreidimensionales Gehirn-Organoid mit einer komplexen Gewebearchitektur formieren.
«Fingerabdrücke» von Zellen
In einer neuen Studie, die soeben in der Fachzeitschrift
«Nature» erschienen ist, haben Treutlein und ihre Team tausende von einzelnen Zellen eines Gehirn-Organoids zu verschiedenen Zeitpunkten sehr detailliert molekulargenetisch charakterisiert.
Karte eines Gehirnorganoids: Die Farben der als Kreise dargestellten Zellen deuten unterschiedliche Zelltypen an. Rechts: Regulationsnetzwerk von Transkriptionsfaktor-Genen, das die Entwicklung eines Gehirnorganoids kontrolliert. | Grafik: Barbara Treutlein, ETH Zürich)
Diese Daten konnten sie in einer Art Landkarte darstellen, auf welcher der molekulare Fingerabdruck jeder Zelle innerhalb des Organoids kartographiert ist. «Solche Organoide kann man wirklich brauchen, um menschliche Entwicklungsbiologie zu erforschen», wird Treutlein in einem
Communiqué der ETH-Zürich zitiert.
Autismus: die Rolle von Genen
Die Forschung an Organoiden aus menschlichem Zellmaterial hat laut ETH den Vorteil, dass die Erkenntnisse auf den Menschen übertragbar sind. Sie lassen sich nicht nur dafür nutzen, um grundlegende Entwicklungsbiologie zu erforschen, sondern auch die Rolle von Genen in Krankheiten oder Entwicklungsstörungen des Gehirns.
So sind Treutlein und ihre Mitarbeitenden daran, die genetische Ursache von Autismus oder Heterotopia, bei der sich Nervenzellen nicht an der anatomisch üblichen Lokalisation in der Grosshirnrinde befinden, anhand von solchen Organoiden zu untersuchen.
Organteile züchten?
Organoide können auch für das Wirkstoff-Screening genutzt werden, möglicherweise auch für die Zucht von transplantierbaren Organen oder Organteilen. Die Pharmabranche ist an solchen Zellkulturen stark interessiert, bestätigt Treutlein.
Allerdings ist die Aufzucht von Organoiden zeit- und arbeitsintensiv. Zudem entwickelt sich jedes Zellklümpchen individuell und nicht standardisiert. Treutlein arbeitet mit ihrem Team deshalb daran, die Organoide zu verbessern und den Herstellungsprozess zu automatisieren.
Human Cell Atlas
Die Erforschung und Kartierung der Gehirn-Organoide ist eingebettet in den
«Human Developmental Cell Atlas». Mit dem Human Cell Atlas wollen Forschende weltweit alle Zellentypen des menschlichen Körpers kartieren sowie Daten darüber zusammentragen, wann in welchen Zellen welche Gene aktiv sind und welche Gene in Krankheiten involviert sein könnten.
Die Leiterin des Human Cell Atlas ist MIT-Biologieprofessorin Aviv Regev, die 2021 den Ehrendoktortitel von der ETH Zürich erhalten hat. ETH-Professorin Barbara Treutlein co-koordiniert den Teilbereich «Organoid Cell Atlas». Dessen Ziel ist es, alle Zellstadien, die in Zellkultur hergestellt werden können, zu kartieren und mit den ursprünglichen Zellen des menschlichen Körpers zu vergleichen.