Herr Kraxner, ist die junge Ärztegeneration heute weniger belastbar?

Depressionen, Burnout, Suchterkrankungen: Ärzte trifft es besonders oft. Ist die Lösung tatsächlich eine Arbeitszeitsenkung? Der Psychiater Fabian Kraxner im Interview.

, 19. September 2024 um 08:30
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Bild: zvg
Eine Mitgliederumfrage des Verbandes Schweizerischer Assistenz- und Oberärzte zeigt einen deutlichen Anstieg an Ärzten, die sich häufig oder meistens emotional erschöpft fühlen – von 25 Prozent im Jahr 2013 auf 39 Prozent im Jahr 2022. Sind Sie von dieser Zunahme überrascht?
Nein, ich bin nicht überrascht. Die Zunahme reflektiert die Realität, mit der viele von uns täglich konfrontiert sind. Die steigende emotionale Erschöpfung ist ein deutliches Zeichen für die Herausforderungen, mit denen Ärzte und Pflegefachpersonen kämpfen. Diese Berufsgruppen leiden denn auch signifikant häufiger unter Depressionen, übermässigen Ängsten, Erschöpfung oder Abhängigkeitserkrankungen als die Allgemeinbevölkerung.
Ist die junge (Ärzte)Generation weniger belastbar als früher?
Nein, bestimmt nicht. Die Anforderungen im 6-jährigen Medizinstudium sind genug hoch. Ärzte stellen dort bereits eine ausdauernde Belastbarkeit unter Beweis.
Frühere Ärztegenerationen berichten von 80-Stunden-Wochen, die der Normalfall waren – heute wird die 42+4-Stunden-Woche gefordert. Was hat sich verändert?
In vielen Spitälern herrscht ein grösserer Zeitdruck und es gibt häufigere Patientenwechsel. Was gesundheitsökonomisch Sinn macht, hat die Arbeitsdichte signifikant erhöht. Ebenso haben sich die berufsspezifischen Rahmenbedingungen wie lange, unregelmässige Arbeitszeiten und hohe bürokratische Anforderungen verändert. Zudem erleben viele Ärzte einen Mangel an Anerkennung und Unterstützung, was den Stress verstärkt. Auch hohe Patientenerwartungen und die schwierige Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben tragen zur psychischen Belastung bei. Wenn unter anspruchsvollen Arbeitsbedingungen auch das Sozialleben leidet und dort fehlendes oder beschränktes Verständnis vorhanden ist, verstärkt sich das subjektive Stressempfinden zusätzlich.

Fabian Kraxner ist Oberarzt und Psychiater am Spital Affoltern. 2023 gewann er als erster Schweizer überhaupt den europäischen Preis als Nachwuchspsychiater. Er ist Mitglied des nationalen Geschäftsausschusses vom Verband Schweizer Assistenz- und Oberärzte(vsao Schweiz).
Aktuell arbeiten Assistenzärzte im Schnitt 56 Stunden pro Woche. Welchen Einfluss haben lange Arbeitszeiten auf die mentale Gesundheit?
Die arbeitswissenschaftliche Evidenz zeigt klar, dass durch anhaltend lange Arbeitszeiten insbesondere auch mentale Probleme wie Angststörungen, Depression und weitere Stressfolgeerkrankungen zunehmen. Zugleich wurde arbeitswissenschaftlich der Zusammenhang von langen Arbeitszeiten mit reduzierter Gesundheit sowie erhöhtem Unfallrisiko nachgewiesen. Zudem wirkt hier die oben gennante Arbeitsverdichtung als Verstärker: Multi-Tasking, rasche Wechsel zwischen verschiedenen Tätigkeiten, Zeitdruck sowie ungeplante Unterbrechungen machen die Arbeit intensiver, was in der reinen Anwesenheitszeit am Arbeitsplatz nicht berücksichtigt wird.
«Die Förderung von attraktiven Jobprofilen sollte vorangetrieben werden, anstatt dem Pflexit und Docxit zuzuschauen»
Auch von moralischem Stress, sogenanntem «Moral Distress», wird immer wieder berichtet. Was versteht man darunter?
«Moral Distress» entsteht, wenn Ärzte oder Pflegekräfte ihre eigenen ethischen Überzeugungen wegen äusseren Zwängen oder Vorgaben nicht umsetzen können. Das passiert, wenn es zu ethischen Konflikten kommt, Ressourcen oder Vorschriften im Weg stehen, Unterstützung fehlt, sie wenig Entscheidungsspielraum haben oder der Druck und die Erwartungen zu hoch sind – oft verschärft durch Spannungen im Team.
Wie kann die Politik und das Gesundheitswesen insgesamt dazu beitragen, die mentale Gesundheit von Ärzten und Pflegepersonal zu fördern?
Die Gesundheitspolitik muss mutig und innovativ sein. Anstatt sich in einer Kultur von Kontrolle und Bürokratie zu verfangen, sollte sie eine Vertrauenskultur fördern. Das bedeutet, in eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu investieren, statt nur auf Kosten zu schauen. Auch die Digitalisierung sollte sinnvoll vorangetrieben werden, um Prozesse zu optimieren und Bürokratie abzubauen. Anstatt dem Pflexit und Docxit zuzuschauen, sollte der Fokus auf der Förderung von attraktiven Jobprofilen liegen.
Gibt es internationale Modelle, die als Vorbilder für die Unterstützung der mentalen Gesundheit im Gesundheitswesen dienen könnten?
Es gibt kein perfektes Modell, aber es gibt durchaus positive Beispiele. Estland ist führend im Bereich Digital Health. Das Land hat erfolgreich E-Rezepte, elektronische Patientendossiers und ein nationales Gesundheitsportal eingeführt. Weniger Bürokratie und effizientere Prozesse tragen zu einer höheren Berufsfreude bei und können als Inspiration dienen.
Gibt es spezielle Programme oder Ressourcen, die Ärzten und Pflegepersonal zur Verfügung stehen, um mit Stress und psychischen Belastungen umzugehen?
Der Schweizerische Berufsverband der Pflegefachfrauen und -männer (SBK) bietet Resilienzkurse an, und ExistentialCare bietet Coachings unter dem Titel «Wenn Pflege Pflege braucht» an. Für Ärzte gibt es das Unterstützungsnetzwerk ReMed, das über eine 24-Stunden-Hotline erreichbar ist. Der Verband VSAO bietet zudem kostenlose Telefonberatung und Workshops zu Zeit- und Selbstmanagement an.


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