Thomas Heiniger mag den freien Markt, das sagte er immer wieder. Dass der scheidende Zürcher Gesundheitsdirektor nun als einer seiner letzten grossen Amtshandlungen ein Gesetzespaket aufgleist, das gewichtige regulatorische Eingriffe in den Spitalmarkt vorsieht, ist deshalb bemerkenswert. Doch Heiniger ist mit seiner Meinung nicht alleine. Medinside hat deshalb einer Krankenkassenfunktionärin und einer Spitalplanerin die Frage gestellt, ob das neue KVG in der Praxis gescheitert sei.
Annamaria Müller, Leiterin Spitalamt Kanton Bern. | Kanton Bern
Annamaria Müller, ist das KVG in seiner heutigen Form gescheitert?
Ich würde das KVG nicht als «gescheitert» bezeichnen. Seine Umsetzung führt jedoch schnurstracks in die Sackgasse. Fragt sie nur, wie schnell beziehungsweise mit welcher Wucht wir in die Wand fahren.
Wo braucht es aus Ihrer Sicht spezifische Reformen?
Wir müssen weg von der Leistungsfinanzierung, hin zu einer Versorgungsfinanzierung. Bei dieser wir die Gesamtverantwortung für die Gesundheitsversorgung der Bürgerinnen und Bürger an streng reglementierte und überwachte Gesundheitsversorgungs-Organisationen (GVO) übertragen, die mit einem monatlichen Mitgliederbeitrag finanziert werden. Einkommensschwache Personen werden vom Staat dabei finanziell unterstützt. Diese Organisationen kontrahieren selektiv mit sämtlichen Arten von Leistungserbringern, die für die Gesundheitsversorgung «von der Wiege bis zur Bahre» nötig sind. Sie können die Leistung auch selber erbringen, etwa indem sie eigenes Gesundheitsfachpersonal anstellen oder beispielsweise eigene Spitäler und Heime führen.
Was halten Sie von den Zürcher Vorschlägen?
Wenn wir weiterhin krampfhaft versuchen, die Leistungserbringung durch Massnahmen in die richtige Richtung zu lenken – sei dies durch das Entfesseln des «freien Markts» oder durch das Anlegen interventionistischer Zügel, wie dies Thomas Heiniger nun offenbar vorschwebt -, machen wir das System nur noch komplexer, instabiler, unberechenbarer und unsteuerbarer. Und sparen keinen Rappen, sondern geben weiterhin 30 Prozent zuviel aus. Dies für jene Leistungen, die kein Mensch braucht, die aber eine nette Rendite abwerfen.
Würden Sie eine grundlegende Neuausrichtung des Spitalmarktes begrüssen?
Ja, wie eben erwähnt. Zudem: Spitäler sind heute «nur noch» ein spezialisiertes bis hoch spezialisiertes Element in der zunehmend fluiden Kette von Gesundheitsversorgern. Ihnen kommt derzeit aber noch viel zu viel Gewicht zu. Sie könnten im Rahmen einer GVO durchaus eine «Hub-Funktion» einnehmen - beziehungsweise die Koordination des vor- und nachgelagerten Bereichs übernehmen. Dies aber nur dann, wenn es ihnen nicht mehr primär darum geht, Ansaugstutzen für lukrative Fälle zu sein, und deckungsbeitragsschädliche Patientinnen und Patienten abzuwimmel. Primär sollte es darum gehen, Spitalaufenthalte zu vermeiden und die Leute niederschwellig und wohnortnah zu versorgen.
Annick Chevillot, Sprecherin Krankenkassenverband Curafutura. | Curafutura
Annick Chevillot, ist das KVG in seiner heutigen Form gescheitert?
Überhaupt nicht! Die Schweiz verfügt über eines der besten Gesundheitssysteme der Welt. Kürzlich wurde der CHUV in Lausanne als eines der zehn besten Spitäler der Welt genannt. Das Schweizer Gesundheitssystem ist aber nicht perfekt und muss verbessert werden. Vor allem mit Blick auf das wiederkehrende Problem der steigenden Gesundheitskosten und Prämien. Dieses Problem muss von den verschiedenen Akteuren des Gesundheitswesens ernst genommen werden und zu grundlegenden Reformen und vor allem zu einer besseren Kostenkontrolle führen.
Wo braucht es aus Ihrer Sicht spezifische Reformen?
Wir müssen der ambulanten Versorgung dringend mehr Priorität einzuräumen. Diese ist viel wirtschaftlicher als die stationäre Versorgung. Die Umsetzung wird zu erheblichen Einsparungen führen. Der zweite Bereich, in dem Maßnahmen ergriffen werden müssen, betrifft die Preise der Medikamente. Die Schweizer Preise sind im internationalen Vergleich zu hoch. Es ist notwendig, die Arzneimittelpreise und Vertriebsmargen zu senken. Die Prämienzahler würden einen echten Unterschied spüren, wenn diese beiden Projekte schnell umgesetzt werden.
Würden Sie eine grundlegende Neuausrichtung des Spitalmarktes begrüssen?
Die Anzahl der Spitäler ist in der Schweiz zu hoch. Eine Verringerung der Anzahl der Krankenhäuser sollte deshalb in Betracht gezogen werden. Aber noch wichtiger ist es, dass wir das Konstrukt des Krankenhauses an sich überdenken müssen. Derzeit ist ein Krankenhaus ein Ort, der für das stationäre Geschäft konzipiert ist. Die Investitionen in den stationären Bereich sind überproportional hoch. Derweil hält die vorhandenen Infrastruktur im ambulanten Bereich nicht mit dem Wachstum in diesem Bereich Schritt.Die Investitionen in die ambulante Infrastruktur müssen daher verstärkt werden.
Die beiden Interviews wurden schriftlich geführt und bearbeitet. Das Interview mit Annick Chevillot wurde zudem aus dem Französischen übersetzt.