Ökonomische Zwänge, Bürokratie, hohe Arbeitsbelastungen, patientenferne, unattraktive Verträge sowie ein stetig steigender wirtschaftlicher Druck durch intensiven Wettbewerb und Trägerinteressenten – diese Gründe gegen eine Laufbahn als Chefarzt geben in Deutschland zu denken.
So auch diese Zahlen: Nur noch 14 Prozent der befragten Oberärztinnen und Oberärzte streben die klassische Chefarztkarriere an – in der Chefarztposition verbleiben wollen 22 Prozent. Die Folge: Der Wettbewerb um die besten Köpfe zwischen den Krankenhäusern wird im Gesundheitswesen weiter zunehmen. Gerade kleinere Kliniken werden vor immer grösseren Schwierigkeiten stehen, qualifizierte Spitzenkräfte zu rekrutieren.
Zu diesem Schluss kommt eine neue
ZHAW-Studie (siehe Studie am Ende des Textes), welche die Karriereziele von 384 Oberärzten an deutschen Universitätskliniken untersucht hat. Die Studie, die im Auftrag der deutschen Personalvermittlung
Rochus Mummert erfolgte, schliesst an eine gemeinsame Arbeit aus dem Jahr 2017 an und zeigt eine Verschärfung der Entwicklungen.
Uni-Medizin ist beliebter
Etwas positiver sind die Daten für Universitätskliniken: Zwar zielen nur etwa acht Prozent der Befragten auf eine Karriere im traditionellen Ordinariat ab. Dem gegenüber stehen jedoch als beliebte Karrierepfade
- mit 23 Prozent die universitäre Sektionsleitung,
- mit rund 22 Prozent die Universitätsprofessur sowie
- mit zwei Prozent die Juniorprofessur.
Diese Zahlen zeigen, dass sich etwa die Hälfte der Befragten vorstellen könnte, weiterhin in der Universitätsmedizin tätig zu sein. Die Selbstständigkeit spielt gemäss Studie für acht Prozent als nächsten Karriereschritt eine Rolle, nur drei Prozent können sich den Weg in die Industrie oder in die Beratung in naher Zukunft vorstellen.
Spitzenkarrieren im Hintergrund
Damit zeichnet sich innerhalb der Krankenhäuser ein Karrierewandel ab: weg von Spitzenkarrieren, hin zu Sektionsleitungen oder Oberarzt-Laufbahnen. Die Studiendaten identifizieren drei Trends, aufgrund derer die Chefarzt-Laufbahn an Attraktivität verliert.
Erstens: Die Daten belegen, dass Oberärzte weiter schwerpunktmässig kurativ in der Medizin tätig sein wollen und eine zu starke Einbindung in Management-Tätigkeiten meiden.
Zweitens: Die gezielte Entwicklung von Führungskompetenzen spielt in der medizinischen Aus- und Weiterbildung kaum eine Rolle. Vielen Oberärzten fehlen nicht nur die entsprechenden Fähigkeiten, sondern vor allem auch Vorbilder und Begeisterung für eine Leadership-Laufbahn.
Drittens: Die Bedürfnisse heutiger Oberärzte und ihre Erwartungen an Arbeitgeber verändern sich geschlechterübergreifend stark.
Kulturwandel verlangt Umdenken
Dieser Kulturwandel sollte, so die Studienautoren
Florian Liberatore und
Henrik Räwer in der
Medienmitteilung, zu einem Umdenken in der Branche zwingen; Beispiele sind etwa Themen wie Work-Life-Balance oder Teilzeit-Arbeitsmodelle. Florian Liberatore, Privatdozent am Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie (ZHAW) und wissenschaftlicher Studienleiter:
«Die Studienergebnisse legen zwei Entwicklungen nahe, die in Kombination auf dramatische Weise die Nachwuchsproblematik im deutschen Klinik-Sektor aufzeigen. Zum einen sehen nur noch rund 14 Prozent der befragten Oberärzte die Laufbahn des Chefarztes beziehungsweise der Chefärztin als attraktive Karriereperspektive. Der Kampf um qualifiziertes Fach- und Führungspersonal wird sich in der Fläche weiter verschärfen. In naher Zukunft werden zentrale Positionen nicht mehr besetzt werden können. Gerade kleinere Häuser werden diese Realität stark spüren. Das wird den Markt nachhaltig verändern.»
«Ernüchterne Ergebnisse»
Die Krux: Laut der Studie fühlen sich viele Oberärzte grundsätzlich für Management-Tätigkeiten kompetent genug. Trotzdem will sie kaum jemand übernehmen. Gefragt nach einer idealen Aufteilung ihres Arbeitsalltags sollte lediglich 12 Prozent der Arbeitszeit auf Management-Tätigkeiten entfallen. Die kurative Versorgung der Patienten steht mit 55 Prozent im Mittelpunkt des gewünschten Arbeitsspektrums. Dahinter folgen Forschung (19%) und Lehre (14%). «Diese Ergebnisse sind ernüchternd, denn sie haben wenig gemeinsam mit der täglichen Realität eines Chefarztes», heisst es in der
Medienmitteilung von Rochus Mummert.
Vorbilder fehlen
Ein Blick in die Studiendaten zeigt, dass sich ein Grossteil der Befragten nicht ausreichend gut auf eine Karriere als Chefarzt vorbereitet ist. Klar ist, dass diejenigen, die eine Laufbahn als Chefarzt anstreben, auch den Willen zur Führung zeigen. Trotzdem werden gezielte Weiterbildungen kaum in Anspruch genommen: Derzeit besitzen nur 15 Prozent dieser Gruppe eine spezialisierte Zusatzausbildung, etwa in Form eines Master- oder MBA-Abschlusses.
Deutlich häufiger (83%) wurden Angebote einer internen Weiterbildung in Anspruch genommen. Auf externe Angebote greifen 40 Prozent zurück. Eine langfristige, zielgerichtete Vorbereitung auf Führungsaufgaben ist dies jedoch nicht. Im Gegenteil: «Die Zahlen sind ein deutliches Signal dafür, dass es in deutschen Kliniken an systematischer ärztlicher Führungskräfteentwicklung mangelt», schreiben die Studienautoren weiter.
«Führung ist nicht delegierbar. Umso wichtiger ist ein zielgerichteter Kompetenzaufbau in diesem Bereich. Dafür ist es gleichbedeutend wichtig, potenzielle Chefärzte frühzeitig für eine entsprechende Karriere zu begeistern. Neben gezielten Weiterbildungsformaten eignen sich auch Massnahmen wie zum Beispiel Coachings und Mentoringprogramme», lässt sich Henrik Räwer, Co-Autor der Studie und Geschäftsführer der Rochus Mummert, zitieren.
Teilzeit-Arbeitsmodelle und Kinderbetreuung
Hinzu komme, dass sich die verändernden Wertevorstellungen sowie Familien- und Lebensmodelle jetziger und zukünftiger Generationen zwingend den Kulturwandel an deutschen Krankenhäusern fordern, so Räwer: «Traditionelles Hierarchiedenken, starre Strukturen und Rahmenbedingungen sowie Überstunden bringen viele praktizierende Mediziner dazu, ihre Karrierepläne zu reflektieren.»
Beispielhafte Problemfelder seien kleine, notorisch unterbesetzte Teams mit einer daraus resultierenden, hohen Dienstbelastung. Dazu eine Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit sowie der spürbare Anstieg in der Notfallversorgung.
Für die beiden Autoren sind die Studienergebnisse insofern erwartbar, dass der geschlechterübergreifend Wunsch nach einer ausgeglichener Work-Life-Balance, Teilzeit-Arbeitsmodellen und allgemein flexibleren und individuelleren Arbeitsbedingungen zunehme. «Darüber hinaus steigen die Bedürfnisse der befragten Oberärzte für Angebote in den Bereichen Kinderbetreuung und Pflege von Angehörigen.»
Lage in der Schweiz
«Eine vergleichbare Studie für die Schweiz gibt es noch nicht. Wir haben in einzelnen Spitälern entsprechende Befragungen durchgeführt und sind zu vergleichbaren Ergebnissen gekommen. Diese dürfen wir aber nicht veröffentlichen, da es sich um Auftragsstudien gehandelt hat», sagt Florian Liberatore auf Anfrage von Medinside.
2020: 555 Abwanderungen in die Schweiz
Seit 2005 werden bei den Ärztekammern die Daten bezüglich der Abwanderung von Ärzten ins Ausland erhoben.
Im Ergebnis lässt sich feststellen, dass im Jahre 2020 insgesamt 1.674 ursprünglich in Deutschland tätige Ärztinnen und Ärzte ins Ausland abgewandert sind. Die beliebtesten Auswanderungsländer sind – wie in den vergangenen Jahren – die Schweiz (555), Österreich (274), Griechenland (62), die USA (54) und das Vereinigte Königreich (51).
Weitere Infos gibt betreffend die Zu- und Abwanderung von ausländischen Ärztinnen und Ärzten gibt es
hier.
Die Studie finden Sie hier: