Der Arzt von heute wird als Dienstleister gesehen, von dem ein «No-Error-Job» verlangt wird. Mutmassliche Fehlleistungen oder Fehltritte breiten sich nicht selten rasch in den Medien aus. Dies muss nun auch Javier Fandino erfahren, der ehemalige Chefarzt der Neurochirurgie des Kantonsspitals Aarau (KSA). Zwei ehemalige Mitarbeitende des Spitals haben schwere Anschuldigungen gegen das KSA und auch gegen Fandino erhoben. Laut NZZ soll es sich um zwei Ex-Kaderärzte handeln.
In dem an das Aargauer Gesundheitsdepartement (DGS) gerichtete Schreiben geht es um «Unregelmässigkeiten, unethisches Verhalten und fehlende Bewilligungen im Zusammenhang mit medizinischen Studien»,
wie der Kanton mitteilt. Ob es sich bei den Verfassern der «Aufsichtsanzeige» um Kaderärzte handelt, will das Gesundheitsdepartement aber nicht bestätigen. Nur so viel: Das Schreiben wurde nicht anonym eingegeben.
Umstrittene Behandlungsmethode im Fokus
In den Vorwürfen geht es unter anderem um den Einsatz des Kontrastmittels 5-Aminolävulinsäure (5-ALA). Fandino verwendet das chirurgische Hilfsmittel seit mehr als zehn Jahren routinemässig bei Eingriffen. Offenbar ohne Einwilligung der Patienten und auch ohne Bewilligung der Ethikkommission, aber offensichtlich gleichzeitig jahrelang ohne laute Kritik. Die bisher vonseiten der Zulassungs- und Aufsichtsbehörde Swissmedic vorliegende Einschätzung sei eher vage, sagt dazu Gesundheitsdirektor Jean-Pierre Gallati der NZZ. Viele Mediziner und neurochirurgische Kliniken verwenden die Fluoreszenz als etablierte Technik, um Krebsgewebe unterscheidbar zu machen. Die weltweit seit 2006 bekannte Methode zur Visualisierung von Tumoren hat kaum Nebenwirkungen.
Andreas Huber bezeichnet im Zeitungsbericht die Aktivitäten von Fandino als «unethisch, allenfalls kriminell». Huber war jahrelang Leiter des Institutes für Labormedizin am KSA und bis zur Reorganisation im Frühling 2018 stellvertretender CEO des Kantonsspitals. Patienten könnten unnötige therapeutische Prozeduren geltend machen, weil der Einsatz von 5-ALA nicht indiziert gewesen sei, sagte er der NZZ weiter. Der frühere Präsident der KSA-Ärztekonferenz und Facharzt für Hämatologie und Onkologie kritisiert gleichzeitig die Spitalleitung für die angeblichen Missstände, weil sie dem Treiben während Jahren tatenlos zugesehen habe.
Inzwischen beschäftigt sich auch die Geschäftsprüfungskommission des Kantonsparlaments mit dem komplexen Fall. Und die Abteilung Gesundheit muss die erhobenen Vorwürfe nun im Rahmen eines Aufsichtsverfahren prüfen: Sachverhaltsabklärungen, Unterlagen und Expertenmeinungen werden eingeholt und ausgewertet. Dieses Verfahren, das einige Monate in Anspruch nehmen wird, ist aber kein Strafverfahren. Die weiteren Schritte hängen von den Ergebnissen der Abklärung ab.
Für Fandino gibt es andere Motive der Anschuldigungen
Javier Fandino selbst weist die Vorwürfe entschieden zurück. Er habe nichts Unethisches gemacht. Alle Forschungsprojekte wurden von der Ethikkommission bewilligt und die Patienten haben im Rahmen der Aufklärung schriftlich eingewilligt, wie er sagt. Es hat gemäss KSA und Fandino zudem nie eine eigentliche bewilligungspflichtige Studie gegeben. Er unterstützt die nun initiierte Untersuchung aber vollumfänglich, wie er gegenüber Medinside erklärt. Auch ihm sei es ein grosses Anliegen, dass restlose Transparenz bezüglich der Vorwürfe geschaffen werde. «Dazu gehört für mich auch, dass die wahren Motive der Anschuldigungen auf den Tisch kommen.» Details kann er aber nicht nennen.
Das hat auch einen Grund. Denn die ganze Geschichte hat mehrere Dimensionen, die wohl über die aktuellen Vorwürfe hinausgehen. Fandino arbeitete bis im Frühling über zehn Jahre beim Kantonsspital Aarau. Im April
stellte ihn das Spital überraschend frei. Über die Gründe haben die beiden Parteien Stillschweigen vereinbart. Offenbar waren unterschiedliche Auffassungen über die Führung der Neurochirurgie sowie entgegengesetzte Ansichten und Erwartungen der Auslöser. Laut einem Insider gab es weder medizinische und patientenbezogene Vorkommnisse noch Haftpflichtfälle, wie verschiedentlich kolportiert wurde.
Spitäler fürchten sich vor Haftpflichtfällen
Denn viele Spitäler und Mediziner fürchten sich vor Haftpflichtfällen. Gegen Javier Fandino selbst gab es am KSA bislang keinen einzigen anerkannten oder gerichtlich festgestellten Fall, wie ein Dokument zeigt, das Medinside vorliegt. Er operiert seit 20 Jahren rund 400 Patienten pro Jahr. Zwar ist ein Haftpflichtfall hängig, das Spital geht aber aktuell nicht von einer Haftung aus. Dem Spital könnten gemäss NZZ im Zusammenhang mit den neuen Vorwürfen aber Klagen in der Höhe von Dutzenden Millionen Franken als Schadenersatzforderungen drohen, sollten Patienten «prozessieren».
Auszug aus dem Schreiben der Legal & Compliance-Abteilung vom KSA
Anreize für Klagen sind hoch
Die meisten Haftpflichtfälle werden aber in direkten Verhandlungen mit der Versicherung ausserprozessual erledigt. Generell haben in den letzten Jahren die Fälle auch in der Schweiz deutlich zugenommen, sagen Experten. Die Fehlertoleranz wird offensichtlich zunehmend kleiner und der Sorgfaltsstandard immer höher angesetzt. Jeder Schritt muss heute lückenlos und akribisch in den Akten dokumentiert werden. Und der Risikokatalog bei Aufklärungsgesprächen vor Operationen wird immer umfassender.
Vernachlässigt wird dabei auch, dass unter Druck stehende Ärztinnen und Ärzte auch mal übermüdet, infolge Personalknappheit gestresst oder einfach nicht auf der Höhe der Reaktionsfähigkeit gewesen sein mögen. Dies treibt die Fehlerquote in die Höhe. Und bei jedem irgendwie darstellbaren Leiden wird heute alles Geld abgeholt, das abgeholt werden kann. Anreize setzen die Medien, Patientenorganisationen und Anwälte.
«Es geht und ging immer um das Wohl und die Gesundheit der Patienten»
Die primäre Reaktion der Mediziner und Spitäler geht dahin, künftige Haftpflichtfälle einfach zu vermeiden. Haftpflichtriskante Therapien werden aus dem Leistungsangebot gestrichen und hochriskante Tätigkeiten erst gar nicht mehr versichert. Vielleicht Therapien, die den Patientinnen und Patienten bei auswegslosen Krankheiten nicht mehr zur Verfügung stehen.
Ob es sich in solch hochriskanten Medizinfeldern wie die Neurochirurgie überhaupt noch lohnt, Arzt oder Chirurg zu werden? Auch vor dem Hintergrund, dass mitunter in nicht eindeutigen Fällen ein negativer Anschein entstehen kann. Für Spitzenmediziner Fandino steht ausser Frage, dass sich die Berufung Chirurg auch für junge Mediziner lohnt. «Es geht und ging immer um das Wohl und die Gesundheit der Patienten.» Das müsse auch in Zukunft oberstes Ziel aller Mediziner sein.