In der Schweiz werden
rund 6'500 Pflegefachleute gesucht – so viele Stellen sind Monat für Monat ausgeschrieben. Hinzu kommen rund 1'700 offene FaGe-Jobs. Und jene Pflege-Tätigkeiten, die gar nicht erst in die Job-Plattformen gelangen, sind da noch gar nicht erfasst.
Auf der anderen Seite ist gerade das Pflegepersonal – und insgesamt das Spitalpersonal – recht impf-faul. Eine kleine Studie von Pflegewissenschaftlern der Uni Basel
belegte soeben wieder die verbreitete Skepsis. Der «moralische Druck», sich gegen die Grippe impfen zu lassen, wirke kontraproduktiv, so eine Erklärung.
Dies wiederum führt zum Ruf nach einem Impf-Obligatorium –
same procedure as every year. Aktuell sind es der
«Tages-Anzeiger» beziehungsweise der
«Bund», die per Kommentar solch einen Grippeimpf-Zwang fordern. Zur letzten Grippesaison brachte erstmals ein Präsident der Eidgenössischen Impfkommission, Christoph Berger, offen solch eine Impfpflicht ins Spiel.
Vorbildfunktion? Welche Vorbildfunktion?
Man findet also definitiv nicht genügend Nachwuchs in den Spitälern und Heimen. Jedes Jahr wird die Lage kritischer. Aber ausgerechnet für dieses Personal soll nun eine Sonderpflicht geschaffen werden, welche an sich schon verfassungsmässig heikel ist. Und jedes Jahr wird die Forderung etwas lauter.
Begründet wird eine Impfpflicht erstens mit der Patientengefährdung und zweitens mit der Vorbildfunktion, welche die Medizin-Profis hätten.
Der zweite Punkt ist ohnehin zu vernachlässigen (wie sollen die Patienten solch eine vorbildhafte Impfung überhaupt erkennen?). Der erste Punkt, die Gefährdung, ist indessen wichtig. Wer ihn vorbringt, untermauert ihn gern mit einer Zahl: 300. Seit einigen Jahren geistert herum, dass in der Schweiz jährlich bis zu 300 Menschen sterben, nachdem sie sich im Spital mit einem Influenza-Virus angesteckt haben.
Man geht aufs Maximum
Die Zahl stammt ursprünglich von Andreas Widmer: Der Leiter der USB-Spitalhygiene
hatte einmal hochgerechnet, dass «etwa 100 bis 300 Patienten» nach Grippe-Infektionen sterben, die sie im Spital aufgelesen hatten. Seither zitieren die Medien natürlich stets die Höchst-Zahl von 300 Opfern. Zugleich vergessen sie, dass darin auch Ansteckungen durch Angehörige oder andere Patienten enthalten sind.
Und nie erwähnt werden andere Zahlen, welche die Sache in ein neues Licht stellen. Letztes Jahr erschien etwa eine grosse
internationale Vergleichsstudie dazu; Epidemiologen aus Frankreich, Kanada und Australien durchforsteten darin frühere Arbeiten, welche die Mortalitätsraten beziehungsweise Grippefälle in Pflegeheimen ins Licht der Personal-Durchimpfung gestellt hatten – und die jeweils klare Zusammenhänge präsentiert hatten.
Resultat: In keinem Fall konnten die jeweils behaupteten Hochrechnungen beziehungsweise Ansteckungs-Raten nachvollzogen werden.
«No effect was shown…»
Da war zum Beispiel jene britische Studie, laut der auf acht geimpfte Medizinpersonen ein Todesfall eines Patienten vermieden werden könnte. Die Forscher um Gaston De Serres vom Institut national de santé publique du Québec rechneten dann aber kurzerhand hoch, dass nach dieser Logik alleine in den amerikanischen Pflegeheimen über 200'000 Todesfälle abgewendet werden könnten. Nur: Das wäre ein Vielfaches der US-Grippetoten überhaupt.
Am Ende kam die internationale Ärztegruppe also zum viel bescheideneren Befund, dass mindestens 6'000 und bis zu 32'000 Spitalangestellte eine Grippeimpfung empfangen müssten, um potentiell den Tod eines einzigen Patienten zu vermeiden.
Wacklige Korrelationen
Natürlich: Die Ergebnisse sprechen überhaupt nicht dagegen, dass sich das Gesundheitspersonal impfen lässt. Aber lassen sich damit Obligatorien begründen?
Zwei Cochrane-Überblicksarbeiten waren schon zuvor zu ähnlichen Resultaten gekommen:
«No effect was shown for specific outcomes: laboratory-proven influenza, pneumonia and death from pneumonia», besagte
2010 eine Untersuchung über die Impf-Wirkung von Pflegepersonal, das mit älteren Patienten zu tun hatte.
Und eine
Überprüfung nach ähnlichem Ansatz ergab 2016:
«Offering influenza vaccination to healthcare workers who care for those aged 60 or over in LTCIs may have little or no effect on laboratory-proven influenza».Und wie ist es mit der Vernunft?
Gewiss, es wirkt völlig einleuchtend, keine vergrippten Menschen auf Kranke loszulassen; doch für eine Spezialbehandlung des Spitalpersonals erscheint die wissenschaftliche Evidenz offenbar arg dünn.
Dass die Korrelationen eher wacklig sind, könnte einerseits an der begrenzten Wirksamkeit der Grippeimpfungen liegen. Ausserdem gibt es da noch die kommune Vernunft, und die besagt: Wer als Pflegefachfrau die Grippe hat, geht nicht zur Arbeit. Bei anderen Spitalbesuchern dürfte dies weniger klar sein, der Besuch eines Angehörigen erscheint hier oft zwingender.
Nebenbei stellt das impfmuffelige Gesundheitspersonal eine andere Frage in den Raum, nämlich: Warum haben denn just sie, die Profis, solche Skepsis? Das belegt zumindest ernsthafte Zweifel an Sinn und Zweck der Sache
(siehe dazu hier).Dennoch, all das spricht nicht dagegen, Grippeimpfungen fürs Spital- und Heimpersonal zu propagieren – sicher ist sicher. Angesichts des Personalmangels wäre es aber illusorisch, dass einzelne Häuser ein Impfobligatorium einführen.
Und insgesamt wäre es absurd, wenn ausgerechnet das Pflegepersonal durch eine allgemeine berufliche Impfpflicht ein weiteres Mal zu spüren bekäme, dass wir seiner Selbstständigkeit nicht trauen.
Andere Mortalitätsraten
Man könnte mit den 6'500 nicht besetzten Stellen für Pflegefachleute gewiss interessante Hochrechnungen veranstalten. Und danach Obligatorien fordern.