Dieses Interview erschien in der neuen Ausgabe 6/2016 von
«Praxisdepesche», dem Schweizer Ärztemagazin.
Herr Dr. Streit, was ist so faszinierend an der Dermatologie?
Die Dermatologie ist eigentlich ein rein klinisches Fach, das finde ich spannend. Es gibt nur wenige Fächer in der Medizin, die so klinisch sind, dass man alleine anhand der klinischen Beurteilung mehr oder weniger genau eine Diagnose stellt. Die Neurologie funktioniert vielleicht noch ähnlich. Wenn man zuerst eine genaue Anamnese hat, kann man mit der klinischen Untersuchung – in der Dermatologie mit Inspektion und Palpation – meist schon sagen, worum es sich handelt. Technische Untersuchungen wie eine Biopsie bestätigen nur noch die Diagnose. Ich bin ein sehr visueller Typ, mein visuelles Gedächtnis ist sehr gut. Diese Gabe ist in der Dermatologie entscheidend. Wenn man mir etwas sagt, haftet es weniger gut.
Markus Streit
Markus Streit ist Chefarzt Dermatologie und Allergologie am Kantonsspital Aarau. Zugleich ist er Leiter des Hautkrebszentrums am KSA. Zuvor arbeitete er unter anderem als Oberarzt an der Dermatologischen Universitätsklinik am Inselspital Bern.
Können Sie im Alltag ausklammern, dass Sie Dermatologe sind? Oder nimmt man
die Arbeit nicht immer mit und denkt auch auf der Strasse: «Oh, der sollte aber dringend zu mir in die Sprechstunde kommen?» Schliesslich trägt man die Haut ja immer mit sich...
Wenn man ein visueller Mensch ist wie ich, verarbeitet man die Eindrücke sowieso schneller und anders. Vielleicht nicht gerade wie Sherlock Holmes, der alles in extremis ableitet. Aber ich nehme schon viele visuelle Eindrücke sofort bewusst in ihrer Konsequenz wahr. Nicht, dass ich zwanghaft jemandem sagen würde: «Oh, Sie haben Hauttyp 1, sind blauäugig und dürfen nicht in der Sonne sitzen.»
«In meinem Wohnort habe ich schon einige Melanome so diagnostiziert»
Aber es ist tatsächlich schon vorgekommen, dass ich aufgrund einer sichtbaren Auffälligkeit jemandem gesagt habe, der Betroffene solle sich beim Spezialisten, am besten gerade bei mir, melden. In meinem Wohnort habe ich schon einige Melanome so diagnostiziert. Ich würde aber nicht auf eine wildfremde Frau mit androgenetischer Alopezie zugehen und ihr sagen, sie müsse wegen ihrer Haarlichtung etwas tun, das sähe ja furchtbar aus.
Sie sind ja aber auch der Leiter der Hautkrebszentrums. Ist das ihr Spezialgebiet?
In einem Betrieb wie unserem in Aarau sieht man alles, was in der Dermatologie anfällt. Man muss deshalb für alles «ein Spezialist» sein. Aber eigentlich ist die Wundbehandlung eines meiner wirklichen Standbeine. Das habe ich in Bern interdisziplinär aufgezogen, und es war auch mein Forschungsgebiet, auf dem ich habilitieren wollte. Ich bin dann eigentlich zu früh nach Aarau gewählt worden, meine akademische Karriere kam damit jäh zu einem Ende, denn hier in Aarau steht die klinische Tätigkeit im Vordergrund.
«Ein Professorentitel und ein akademischer Rang werden in einem nicht-universitären Betrieb oft nur zu Werbezwecken ausgeschlachtet.»
Für Forschung bleibt in einem kleinen Betrieb keine Zeit, hier kommt zuerst der Patient. Aber eigentlich wollte ich das auch so. Für mich ist schlussendlich nicht ein akademischer Titel entscheidend, sondern was man als Arzt leistet. Ich möchte auf diese Weise Herausragendes machen. Ein Professorentitel und ein akademischer Rang werden in einem nicht-universitären Betrieb oft nur zu Werbezwecken ausgeschlachtet.
Was ist denn das Herausragende in Aarau?
Natürlich ist es wichtig, mit seinem Fachwissen up-to-date zu sein. Wichtiger scheint mir aber, dass der Patient wirklich im Mittelpunkt steht. Wir gehen in unserem Betrieb sehr auf Patienten ein und nehmen uns Zeit für sie. Dermatologie ist in der Privatpraxis ein Fach mit extrem kurzen Kontaktzeiten. Eine Warze ist eine Blickdiagnose, da wird rasch vereist, für ein Ekzem verordnet man schnell eine Creme.
Es ist die Gefahr des Fachs, dass keine Zeit für Erklärungen bleibt und der Patient nicht versteht, was er hat und was man mit ihm macht. Es ist meiner Meinung nach einer der grossen Missstände allgemein in der Medizin, dass wir uns teuerste Untersuchungen und Abklärungen leisten, aber nicht mehr in die ärztliche Patientenkontaktzeit investieren wollen, weswegen Konsultationen immer kürzer gehalten werden, damit man genügend Patienten durchschleusen kann.
«Wir leisten uns teuerste Untersuchungen, aber wollen nicht mehr in die Patientenzeit investieren»
Das führt dazu, dass Patienten dann lieber in die Alternativmedizin gehen, weil man sich dort wenigstens die Zeit für sie nimmt. Wir hier in der Spitaldermatologie wollen keine Patienten im Minutentakt durchschleusen. Natürlich haben wir auch viele Zuweisungen, die von Anfang an komplex sind. Da wird man den Patienten nicht gerecht, indem man einfach ein Rezept ausstellt. Das Problem zum Beispiel eines Patienten mit chronischem Juckreiz wird man in der Praxis kaum lösen können. Ich habe im Spital die Freiheit, mir in meiner Spezialsprechstunde eine Stunde dafür zu nehmen.
Wir möchten aber auch in «banalen» Fällen auf die Patienten eingehen und zuhören. Auch unsere Ausbildungsassistenten können die Patienten eine halbe Stunde oder 40 Minuten begutachten. Patienten sollen das Gefühl haben, dass man sie ernst nimmt und dass man sie verstanden hat. Das Ganze bezahlt sich, weil im Tarmed über die Zeit abgerechnet wird und auch zeitaufwändige Konsultationen sich so rechnen. Unser Konzept geht bisher sehr gut auf. Sicher könnte man banale Fälle schneller abhandeln. Viele Patienten schätzen es aber, dass sie vom Assistenzarzt und nachher auch noch vom Oberarzt angeschaut werden – sie wollen gehört werden! Das machen wir hier sehr gut, finde ich.
Wie stehen Sie zur Telemedizin?
Zum Entscheiden von Behandlungsdringlichkeiten könnte ich mir das gar nicht mehr wegdenken. Unser Notfallbetrieb basiert auf der Telemedizin. In der Dermatologie haben wir kaum Notfälle, bei denen sofort interveniert werden muss. Aber die Dringlichkeit der Behandlung sollte möglichst rasch festgelegt werden können. Wir erhalten im Dienst, auch sonntags, sehr häufig von Kollegen in der Praxis und aus Notfallstationen anderer Spitäler Fotos mit der Bitte um eine Beurteilung. Das klappt sehr gut. Wenn man wirklich eine saubere dermatologische Beurteilung machen will, muss man den Patienten aber sehen. Gewisse Dinge sieht man auf den Bildern einfach nicht.