Man sitze wegen Corona immer noch wie auf Nadeln, sagt Nicolas Müller, leitender Arzt und Professor an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene des Universitätsspital Zürich. Im Interview mit der «NZZ am Sonntag» nimmt der Infektiologe Stellung zum aktuellen Wissensstand über COVID-19- und den aktuell grassierenden Corona-Virus.
Man könne die Infektionen heute aber besser behandeln als noch im März, sagt Müller. In der Zwischenzeit haben man gesehen, welche Wirkstoffe etwas brächten und welche nicht.
So behandelt das USZ die Corona-Patientinnen und -Patienten: Anfangs erhalten sie zur Thrombose-Vorbeugung Blutverdünner. Im Rahmen einer Studie wird zudem Blutplasma verabreicht, das Antikörper von Personen enthält, die COVID-19 bereits durchgemacht haben. Das wirke «relativ gut», sagt Müller. Ein Teil der Patienten erhalte zudem das antiviral wirkende Remdesivir sowie den Entzündungshemmer Dexamethason.
Engpass droht
Bei Remdesiv drohe aber ein Engpass, weil die USA grosse Mengen aufgekauft haben, sagt Müller, der auch Mitglied der Covid-19-Task-Force des Bundes ist die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie präsidiert. Wenn keine neuen Lieferungen in die Schweiz kämen, habe man bald ein Problem.
Müller glaubt nicht, dass es einen Wirkstoff geben wird, der COVID-19 nachhaltig eindämmt. Bereits die heute verwendeten Wirkstoffe könne man nur individuell einsetzen. Im besten Fall verhinderten diese, dass sich der Zustand eines Patienten verschlechtere. Das Wundermittel, auf das alle hofften, werde es nicht geben, so Müller. Das wisse man auch von anderen viralen Infektionskrankheiten.
Droht wieder alles ausser Kontrolle zu geraten?
Nun, da viele Menschen aus den Ferien in die Schweiz zurückkehrten, habe man die Befürchtung, dass alles wieder ausser Kontrolle geraten könnte, sagt Müller. Ein Vorteil sei, das aktuell viele jüngere Menschen angesteckt würden. Diese könnten sich häufiger alleine zuhause auskurieren.
Müller spricht aber auch davon, wie angespannt die Situation in den Frühlingsmonaten manchmal war. Dass landesweit über 3000 Patientinnen und Patienten wegen der gleichen Erkrankung in Spitalpflege waren, habe es zuvor noch nie gegeben. Und vieles hätten die Öffentlichkeit in der Deutschschweiz schlicht nicht realisiert. So habe es ein Tag gegeben, an dem in der ganzen Schweiz von einem Narkosemittel nur noch Reserven für einen Tag vorhanden gewesen waren.
Grundsätzlich sei die Deutschschweiz im Vergleich zum Tessin und manchen Westschweizer Kantonen gut weggekommen. In der Süd- und Westschweiz hätten viele denn auch eine ziemlich andere Wahrnehmung von der Corona-Epidemie.
Wieder gehen lernen
Müller sagt, dass immer noch Patienten der ersten Welle hospitalisiert seien. Gerade die beatmeten Patienten blieben zum Teil «viele Wochen» im Spital. Neben möglichen Lungenschäden sei auch der Muskelschwund ein Problem. Die Betroffenen müssen wieder zu gehen und zu atmen lernen. Die meisten der in der Intensivstation behandelten Patientinnen und Patienten seien zwischen 55 und 70 Jahre alt.
Eine Durchseuchung hält Müller für nicht sinnvoll und möglich. Er hofft auf eine Impfung, welche die älteren Menschen schützt. Diese werde aber jedes Jahr aufgefrischt werden müssen.