Die McDonaldisierung des Gesundheitswesens

Frage: Wie unterscheiden sich moderne Kliniken von Fast-Food-Ketten? Antwort: Immer weniger. Speziell heikel ist das für die Angestellten in der Branche.

, 18. November 2015 um 13:26
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Anregenden «Food for Thought» haben wir beim «Journal of the American Medical Association» gefunden, genauer: in «JAMA Neurology». Dort erschien gestern ein Gemeinschafts-Werk des Neurologen E. Ray Dorsey – der unter anderem an der University of Rochester lehrt – mit dem Soziologen George Ritzer.
Ihre These: Der Medizinbereich unterwirft sich immer mehr der Logik des Hamburger-Konzern McDonald's. Dort wurden gewisse Prinzipien mit Erfolg eingeführt und weltweit durchgesetzt. Aber im Gesundheitswesen ist dieselbe Entwicklung sehr problematisch. 

E. Ray Dorsey, George Ritzer: «The McDonaldization of Medizine», in: «JAMA Neurology», November 2015.

George Ritzer war schon in den Neunzigerjahren bekannt geworden durch seine Arbeiten über das McDonald's-Prinzip und dessen Ausbreitung auf andere Gesellschaftsbereiche. Laut seiner Analyse bilden vier Punkte den entscheidenden Kern des McD-Modells: Effizienz, Berechenbarkeit, Voraussehbarkeit und Kontrolle. 
Und alle vier Anforderungen, so jetzt die Erkenntnis 2015, sind auch im Gesundheitsbereich zu entscheidenden Leitlinien geworden, in Spitälern, Kliniken, Reha-Zentren, Arztpraxen, Gesundheitsbehörden. Es sind dies:
Effizenz. Ihre zunehmende Bedeutung zeigt sich beispielsweise in der Durchplanung der Patientenströme, in einem verstärkten Einsatz von Robotern, in kürzeren Sprechstunden-Terminen oder auch darin, dass Patienten und ihre Gesundheitsinformationen mehr und mehr mit Fragebogen erfasst werden.
Berechenbarkeit. Es fällt auf, wie sehr sich Rankings auch im Medizinbereich ausbreiten, ob bei der Spitalqualität oder bei der Beurteilung von Medizinfakultäten. Klassifizierungssysteme für Krankheiten werden stärker beachtet, und Messlatten wie Aufenthaltsdauer, Rückfallraten und Fallzahlen sind entscheidende Rahmenbedingungen bei Beurteilung und Finanzierung.
Vereinheitlichung. Der Trend zur Standardisierung schlägt sich zum Beispiel nieder in einem gemeinsamen Marketing-Auftritt zahlreicher Anbieter, auch in einheitlichen Checklisten, Papiervorlagen oder Patientendossiers.
Kontrolle. Im McDonald's-Prinzip bedeutet dies, dass die Menschen durch nicht-menschliche Abläufe und Apparate angeleitet werden. Im heutigen Gesundheitswesen zeigt sich dies etwa in der wachsenden Bedeutung von elektronischen Patientendossiers, Tarmed-Listen oder Formularen.
So weit, so nachvollziehbar: Schliesslich lassen sich die von Dorsey und Ritzer aufgezeichneten Entwicklungen zweifelsfrei auch für die Schweiz nachzeichnen. 

Mehr Effizienz gleich weniger effizientes Personal

Aber der Aufsatz ist auch eine Warnung.  Denn obwohl die vier Regeln der McDonaldisierung auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen, sind ihre Resultate oft enttäuschend bis katastrophal. Es gibt Risiken und Nebenwirkungen.
Ein Beispiel: Setzt eine Klinik auf Effizensteigerung, so kann es passieren, dass sie in der Folge günstigeres und weniger effizientes Personal beschäftigt. Zugleich bekommen die Ärzte weniger Zeit für die Patienten. Aus Sicht der Patienten also gibt es am Ende keineswegs mehr Effizenz – sondern oft sogar längere Wartezeiten, aber gleichzeitig weniger Kontakt mit einem Arzt.

Wie war das mit der Patientenorientierung?

Beim Aspekt der Berechenbarkeit äussern die Professoren allerlei Zweifel, ob sich aus der zunehmend zahlengetriebenen Erfassung der Qualität viel Vernünftiges ableiten lässt. Der Konkurrenzkampf über die Zahl der Fälle sei sicher nicht gut für die Qualität der Betreuung. Obendrein: «Selbst Qualitätsmesslatten verwechseln oftmals Quantität und Qualität, beispielweise beim Fokus auf die Spital-Aufenthaltsdauer.»
Die Tendenz zur Vereinheitlichung wiederum erhöht den Zwang, dass alle Patienten eben auch standardisiert behandelt werden (was, wie Dorsey und Ritzer nebenbei bemerken in direktem Gegensatz zur Forderung nach einer patientenorientierten Medizin steht.
Und der Aspekt der Kontrolle des Menschen durch Apparate – ein ganz entscheidender Kern der McDonaldisierung – ist im Gesundheitswesen ebenfalls in vielerlei Facetten greifbar. Etwa darin, dass Ärzte wie Pflegepersonal mehr und mehr Zeit hinter dem Computerbildschirm und mit bürokratischen Arbeiten verbringen.

«Die edelsten Werte der Medizin bedroht»

«Ohne Massnahmen, die der McDonaldisierung entgegengesetzt werden können, sind die edelsten und entscheidenden Werte der Medizin bedroht», urteilen denn auch die Autoren. «Darunter die Sorge um das Individuum und eine sinnstiftende Beziehung zwischen Patient und Arzt.»
Man könnte nun also – wie es oft geschieht – die ökonomischen Zwänge verdammen und unzufrieden weitermachen. Aber vielleicht sollte man sich jetzt eher darauf konzentrieren, nach einem neuen Mittelweg zu suchen: Denn gewiss, auf einer anderen Seite ist es zweifellos sinnvoll, dass die Abläufe in der Medizin effizient sind, dass sich der Nutzen einer Behandlung messen lässt, dass es Protokolle gibt und dass sich jeder auf gewisse Prinzipien verlassen kann.
Es geht also, wieder einmal, um das Ausmass.
E. Ray Dorsey und George Ritzer plädieren für einen besonders vorsichtiges Vorgehen im Gesundheitsbereich: Denn gerade hier drohe Entmenschlichung, wenn die rationalen Zwänge zu stark werden.
Immerhin: Es gibt viele Möglichkeiten, die hier auch neue Räume schaffen – zum Beispiel kleine Gruppenpraxen, welche ein enges Arzt-Patientenverhältnis erlauben; E-Patientendossiers, welche letztlich helfen, Bürokratie abzubauen. 

  • Bild: Tony Fisher, «McDonalds Night Shot», Flickr CC

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