In der letzten Woche war die Tarmed-Position 00.0140 wieder ein grosses Thema: Wie Santésuisse in einem «10 vor 10»-Beitrag bekannt machte, verrechneten die Ärzte 2016 fast eine halbe Milliarde Franken als «Leistung in Abwesenheit des Patienten». Die Summe hatte sich damit innert weniger Jahren mehr als verdoppelt – von 199 Millionen Franken im Jahr 2010 auf 454 Millionen Franken im letzten Jahr.
Die Stossrichtung des Beitrags war klar – auch der diversen Medienberichte, die in den Tagen danach folgten: Im Kern stand der Verdacht, dass die Doktoren nicht ganz koscher abrechnen.
«Nicht tolerierbar»
«Diese Position ist ein Selbstbedienungsladen», sagte Santésuisse-Direktorin Verena Nold denn auch in der Fernsehsendung: «Jeder kann darüber soviel abrechnen, wie er es für gut findet – und daran verdienen, was er will. Das ist nicht tolerierbar.»
Allerdings entstand diesmal lauterer Widerstand der Ärzteschaft als letztes Jahr, wo als ähnlicher TV-Beitrag erschienen war.
Auf der Website der Zürcher Ärztegesellschaft AGZ veröffentlichte der
Rheumatologe Michael Andor eine Stellungnahme, worin er an eine Binsenwahrheit erinnerte: «Ein Arzt erledigt einen Grossteil seiner Arbeit in Abwesenheit des Patienten, in den Abendstunden oder früh morgens.»
Dass die verdächtige Position häufiger angekreuzt werde, ergebe sich daraus, dass Patienten nur noch für die wichtigen Konsultationen mit Untersuchungen persönlich beim Arzt erscheinen. Und weiter: «Im Internetzeitalter pflegen Patienten auch immer häufiger nach der Sprechstunde noch ergänzende Fragen per E-Mail zu stellen. Diese müssen ebenfalls ausserhalb der Sprechstundenzeiten beantwortet werden.»
«Leerlauf, Zeitverschwendung»
Am Freitag danach brachte «10 vor 10» einen weiteren Beitrag, in dem die Mediziner das eher verdächtige Bild der ersten Sendung etwas korrigieren konnten. Felix Huber – bekannt als Medix-Manager – spielte den Ball zurück: Auch die Krankenkassen seien am bürokratischen Aufwand mitschuldig. Ständig müssten sich die Ärzte rechtfertigen, ständig gebe es Überprüfungen der Leistungspflicht: «Leerlauf, Zeitverschwendung, Geldverschwendung».
Und Urs Stoffel, der Vertreter der FMH, anerkannte zwar, dass die Kassen die Leistungen überprüfen müssen – allein, es gebe auch einen Range, was hier vernünftig sei. Bei den tatsächlichen Überprüfungen, so Stoffel, übertrieben die Kassen «masslos».
Der Streit um den«Abwesenheits»-Posten zeige, «wie gross das Misstrauen gegenseitig ist»: So lautete denn ein Fazit im abschliessenden TV-Beitrag.
Das hat sicher etwas für sich. Allein: Ist dieses gegenseitige Misstrauen in diesem Bereich wirklich so berechtigt?
Die Bürokratie ärgert ja auch Ärzte
Oder sind sich beide Seiten im Grunde nicht sogar einig? In anderen Zusammenhängen beklagen die Ärzte regelmässig, dass sie mit mehr und mehr bürokratischen und administrativen Aufgaben befrachtet werden. In berufsinternen Umfragen erscheint gerade diese Last als wichtiger Grund, den Bettel hinzuschmeissen (siehe dazu
hierhier und hier).
Interessanterweise kursierte fast zeitgleich zur «Abwesenheits»-Debatte eine andere Meldung (die sogar international sehr beachtet wurde): Laut einer neuen Studie aus
Lausanne verbringen Assistenzärzte dreimal soviel Arbeitszeit vor dem Bildschirm wie am Patientenbett: Leistungen in Abwesenheit des Patienten also.
«Selbstbedienung» als Sub-Aspekt
Kurz: Das Problem ist also tatsächlich ernsthaft. Und es wird von den Ärzten auch so empfunden. Zwar dreht sich der aktuelle Streit um eine Tarmed-Position, also vor allem um die Arbeit von Praxisärzten. Aber erwähnt sei, dass der Krankenkassenverband jetzt insbesondere das Büro-Abrechnungs-Wachstum bei ambulanten Spitalbehandlungen monierte.
Gewiss, bei den Santésuisse-Veröffentlichungen zum Thema geht es um den Verdacht, dass hier allzu leichtfertig schwer überprüfbare Arbeiten verrechnet werden – um den erwähnten «Selbstbedienungsladen». Doch das ist nur die eine Seite. Denn klar wird auch, dass es bei dieser inkriminierten Position einen grossen Bereich gibt, bei dem sich beide Seiten eigentlich sehr einig wären – Kassen wie Ärzte.
Beide haben den Verdacht, dass die ärztliche Arbeit zu bürokratisch geworden ist.