Zwangsmedikation, Festbinden, Isolation in einem Zimmer: Das sind Methoden, die in den Schweizer Psychiatriekliniken immer noch angewendet werden. Eingesetzt werden sie, wenn durch die psychische Krankheit eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Doch neuste Zahlen des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ) zeigen: Solche Massnahmen kommen immer weniger zum Zug.
Jedes zehnte Kind mit Zwangsmassnahmen behandelt
Am meisten so genannte freiheitsbeschränkende Massnahmen gibt es bei Kindern und Jugendlichen. Jeder zehnte junge Patient wurde letztes Jahr während seines Klinikaufenthalts mindestens einmal gegen seinen Willen behandelt.
Die Jugendpsychiatrische Therapiestation Kriens der Luzerner Psychiatrie (Lups) nimmt dabei eine Spitzenposition ein: Die Zahlen zeigen, dass ein Drittel der Jugendlichen bei ihrem Aufenthalt in ihrer Freiheit beschränkt wird. Die Lups weist aber ausdrücklich auf ihr Institutskonzept hin: «Es gibt bei uns grundsätzlich keine Fixierungen», betonen die Verantwortlichen. Bei den Freiheitsbeschränkungen handle es sich um begleitende Aufenthalte im Einzelzimmer.
Weniger Zwang heisst nicht automatisch bessere Klinik
Johanna Friedli, Leiterin Psychiatrie bei ANQ, weist denn auch ausdrücklich darauf hin, dass weniger freiheitsbeschränkende Massnahmen nicht automatisch auf eine bessere Qualität der Klinik hindeute. «Eine Interpretation der Ergebnisse muss immer im Kontext der Klinikkonzepte erfolgen.»
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es etwas häufiger freiheitsbeschränkende Massnahmen als in der Erwachsenen-Psychiatrie, wo die Quote bei rund acht Prozent der Fälle liegt. «Bei Kindern und Jugendlichen handelt es sich oft um Notfall- oder Krisensituationen»», erklärt Johanna Friedli. Ausserdem sei in der Kinder- und Jugendpsychiatrie die Dynamik unter den Patienten eine grosse Herausforderung.
Bei Straffälligen mehr Zwangsmassnahmen
In psychiatrischen Kliniken, die Abhängigkeitserkrankungen behandeln, kommen freiheitsbeschränkende Massnahmen gar nicht vor. Ganz anders bei Patienten, die sich gleichzeitig im Massnahmen- oder im Strafvollzug befinden: Fast vier von zehn dieser Patienten erhalten mindestens einmal unfreiwillige Behandlungen.
Die Art der freiheitsbeschränkenden Massnahmen ist je nach Klinik und Patienten unterschiedlich. So werden in der Alterspsychiatrie die Patienten zum Beispiel auch mit tiefen Sitzen oder Bettgittern einerseits geschützt und andererseits in ihrer Freiheit beschnitten.
Offene Abteilungen rufen weniger Widerstand hervor
Es gebe Kliniken, die häufiger kürzere Massnahmen anwenden, andere würden weniger, dafür längere Massnahmen einsetzen, stellt Johanna Friedli fest. Immer mehr Kliniken können aber auch auf solche Zwangsmassnahmen verzichten. Der Grund: Sie gestalten die Abteilungen zunehmend offener, und es wird früher erkannt, wenn Patienten sich selber oder andere gefährden könnten.
«Offene Abteilungen fordern weniger zu Widerstand heraus», erklärt Johann Friedli. Sie erwähnt auch das Beispiel einer Klinik, welche ein Musikzimmer anbietet, das zur Beruhigung von Patienten dient und erzwungenen Massnahmen vorbeugt.
Rund 130 Kliniken beurteilt
Alle 96 Kliniken der Erwachsenenpsychiatrie und 32 Kliniken der Kinder- und Jugendpsychiatrie haben im Jahr 2019 an der landesweiten Qualitätsmessung des ANQ teilgenommen.