Schon vor der Einführung war sie umstritten: Die neue Tarifstruktur für die stationäre Psychiatrie. Nun, ein Jahr nach der Einführung des Tarpsy, fällt die Bilanz durchzogen aus. Dies zeigt eine von Medinside durchgeführte Umfrage bei Anbietern, Verbänden und Behörden.
Als der Bundesrat vor knapp zwei Jahren den Tarpsy verabschiedete, sollte damit «die Grundlage für eine sachgerechtere Finanzierung und somit zur effizienteren Organisation der Gesundheitsversorgung» geschaffen werden. Auch versprach sich die Regierung eine höhere Kosten- und Leistungstransparenz und somit eine bessere Vergleichbarkeit der einzelnen Kliniken.
Vergleichbarkeit weiterhin nicht gegeben
Doch bis auf wenige Ausnahmen konstatieren alle befragten Kliniken, dass die Vergleichbarkeit zwischen den Kliniken auch nach der Einführung der neuen Tarifordnung nicht gegeben sei. So sagen die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) und die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) übereinstimmend, dass die Vergleichbarkeit einzig eine scheinbare sei. Denn für tatsächliche Vergleiche seien die Psychiatrien und die Leistungsaufträge zu unterschiedlich und die Einteilungen in die einzelnen Kostengruppen viel zu grob.
Auch der Spitalverband H+ sieht dies ähnlich, hofft aber auf eine Besserung in den Folgejahren. Aktuell sei die fehlende Vergleichbarkeit aber problematisch. Dies, weil sich manche Krankenversicherungen bereits heute auf die Vergleiche stützten. Dies habe zur Folge, dass sich Anbieter in den Verhandlungen zu den Grundpauschalen mit zu tiefen Forderungen konfrontiert sähen.
Dass etwa Spitäler mit einer Aufenthaltsdauer von 30 Tagen mit solchen verglichen würden, die eine Aufenthaltsdauer von 50 Tagen hätten, sei wenig sinnvoll, findet auch die Gesundheitsdirektion des Kanton Zürich. Dass derzeit überkantonale Effizienzvergleiche noch nicht möglich seien, liege auch daran, dass die Kostendaten 2018 erst im Folgejahr zur Verfügung stehen und die Tarifstruktur noch nicht alle wesentlichen Kostenunterschiede abzubilden vermöge. In Zürich erhofft man sich aber, dass der Tarpsy «mittelfristig» Vergleiche zulässt. Schon heute eine Verbesserung betreffend Vergleichbarkeit konstatiert man dagegen in der privaten Klinik Barmelweid.
Tarifstruktur für die stationäre Psychiatrie
Der Tarpsy regelt seit Januar 2018 die Abgeltung von stationären psychiatrischen Behandlungen. Anders als im akutsomatischen Bereich handelt es sich um kein Fallpauschalensystem. Es werden weiter Tagespauschalen verrechnet. Jede Klinik handelt mit den Versicherungen Grundtagespauschalen aus. Auf deren Basis werden die effektiven Tagespauschalen berechnet. Dazu werden die Patienten in Kostengruppen eingeteilt. Dabei werden neben der Hauptdiagnose auch das Alter, der Schweregrad der Erkrankung und Nebendiagnosen berücksichtigt. Die Tagespauschalen nehmen vom zweiten Behandlungstag mit längerwährender Behandlung ab. Wie schnell und wie lange, ist von der Kostengruppe abhängig.
Seit Januar 2019 ist die modifizierte Version Tarpsy 2.0 in Kraft getreten.
Akute Lernschwäche
Der Tarpsy ist als «lernendes System» angelegt. Das heisst, die Tarife sollen sich entwickeln und den Gegebenheiten anpassen. Aus Anbietersicht ist Letzteres dringend notwendig: So loben die Basler UPK zwar den Ansatz für eine leistungsbezogene Abgeltung, doch sei die Tarifstruktur «noch ungenügend».
Bei der UPD in Bern hält man die Ausführung des Tarifs für «nicht wirklich tauglich»: So könnten die in der der Psychiatrie unabdingbaren Belastungserprobungen - wenn eine Person aus therapeutischen Gründen temporär nach Hause geht - nicht sachgerecht abgerechnet werden. Man habe die Zahl und Dauer dieser Belastungserprobungen verkürzen müssen, schreibt auch die Integrierte Psychiatrie Winterthur (IPW). «Das führt teilweise zu Überforderung der Patienten.»
Gefordert wird auch, dass Behandlungen, die wegen ihrer Aufwendigkeit teuer sind, im Tarifsystem besser abgebildet und vergütet werden. Das sieht man nicht nur in grossen Unikliniken so, sondern unter anderem auch in der privaten Klinik Barmelweid. Bei der IPW streicht man positiv hervor, dass etwa im Bereich der Alterspsychiatrie zu einer verbesserten Abbildung der Kosten geführt hat.
Ulrich Michael Hemmeter von der Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) sorgt sich, dass Mängel in der Tarifstruktur für eine Zweiklassenmedizin sorgen könnten. Dies, weil Spezialangebote zwar auch ausserhalb des Tarpsy kategorisiert werden könnten, es dann bis zu einer allfälligen Vergütung aber mindestens drei Jahre dauere. In der Zwischenzeit müssten die Angebote querfinanziert werden. Damit drohten diese Angebote einzig für Zusatzversicherte und Selbstzahler zur Verfügung zu stehen, so der Facharzt.
Steigender Aufwand
Kritisch äusserten sich alle Kliniken in Bezug auf den Verwaltungsaufwand. Dieser habe seit der Einführung tendenziell zugenommen. Dies nicht zuletzt weil der Aufwand für die Datenerhebung wie erwartet gestiegen ist. Die Anforderungen würden immer engmaschiger, sagt etwa Dorit Djelid vom Spitalverband H+. Speziell die Ärzteschaft würde stark belastet, schreiben dazu die UPD. Deshalb bleibe weniger Zeit für die Arbeit mit den Patienten. Der Mehraufwand habe auch höhere interne Kosten zur Folge.
Die erhöhten Anforderungen an die Datenerhebung werden aber nicht nur kritisch gesehen. Gemäss dem Dachverband der Psychiater und Psychiaterinnen führen diese dazu, dass «sich die Dokumentationsqualität sich verbessert und man genauer auf die einzelnen Fälle schaut.» Mit der Datenqualität und -menge soll zudem auch die Justierung des Tarpsy besser werden.
Krankenkassen machen Druck - und sorgen für Mehraufwand
Ein weiterer Hauptgrund für den Mehraufwand: eine deutliche Zunahme von Krankenkassenanfragen und Rückweisungen von Rechnungen. Mehrere Anbieter schreiben, dass einige Versicherungen den Tarpsy zum Vorwand nehmen, die stationären Behandlungen flächendeckend zu hinterfragen. Da nur sehr wenige Fälle korrigiert würden, stehe dem Zusatzaufwand kein Mehrwert für das Gesamtsystem gegenüber, schreibt etwa die IP Winterthur. «Der Anteil effektiver Beanstandungen, die keine Leistungsvergütung durch die Krankenkassen zur Folge haben, ist bisher jedoch noch relativ gering», bestätigt auch Ulrich Michael Hemmeter von der SGPP. Dennoch hätten nahezu alle Kliniken Controller eingestellt. Für Hemmeter ist klar: Diese Entwicklung führt letztlich zu Mehrkosten des gesamten Systems, ohne dass es dabei zu einer deutlichen Behandlungsverbesserung kommt.
Stationär statt ambulant
Weitgehende Übereinstimmung gibt es im Befund, dass der Tarpsy bisher kaum zu einer Verlagerung in den ambulanten Bereich führt. Dies weil die ambulanten Angebote weiterhin über den Tarmed-Tarif abgegolten werden und oft nicht kostendeckend sind. «Es besteht deshalb die Tendenz, dass sich einige Anbieter von tagespsychiatrischen Angeboten zurückziehen», teilt der Ärzteverband FMH mit. Es sollten deshalb Anreize geschaffen werden, die die Verlagerung von stationär zu intermediär sowie zu ambulant fördern. Auch die UPD fordern eine Revision der ambulanten Tarife, die auch in jenem Bereich zu einer Kostendeckung führten.
Druck auf Patienten
Mehrere Anbieter loben zwar, dass der neue Tarif ein erster Ansatz sei, für angebotsgerechte Vergütungen. Sie orten aber auch Fehlanreize. Die FMH schreibt, dass diese derzeit teilweise dazu führen, dass Jugendliche in der Erwachsenenpsychiatrie behandelt werden. Und in den Psychiatrische Dienste Graubünden fürchtet man, dass «bewährte Behandlungsprozesse, welche auf eine hochstehende Qualität ausgerichtet sind, aus finanziellen Gründen dem Finanzierungssystem angepasst werden.» Es drohe zudem eine Verlagerung von nicht kostendeckenden Fällen von privaten zu öffentlichen Leistungsanbietern.
Und in den UPD sorgt man sich, dass der Tarpsy Druck auf die Verweildauern der Patientinnen und Patienten ausüben könnte. Die Folge wäre ein ökonomisch und nicht medizinisch getriebenes Aufenthaltsdauermanagement.
Positiver Kanton
Während man in der Praxis mit dem neuen Tarifsystem hadert, sind die Behörden zurückhaltender. «Gehäufte Beschwerden oder Qualitätsprobleme sind uns nicht bekannt», heisst es beim Kanton Zürich. Die Umstellung habe gut funktioniert. Andere kantonale Behörden wollen noch Erhebungen abwarten. Auch das BAG verweist auf ein Monitoring, dessen Auswertung erst im kommenden Herbst publiziert werden soll.
Viel über die Befindlichkeit bei den Anbietern sagt ein Satz des Spitalverband H+ aus. Dieser konstatiert, dass «die psychiatrischen Kliniken die qualitativ hochstehende psychiatrische Versorgung für ihre Patientinnen und Patienten nach Einführung von Tarpsy fortführen konnten und können». Man kann es auch so lesen: Es geht auch mit dem Tarpsy - oder trotz ihm.
In einer früheren Version dieses Textes wurde die Aussage, dass Fehlanreize dazu führten, dass Jugendliche in der Erwachsenenpsychiatrie behandelt würden, der UPK zugeordnet. Korrekt ist, dass das Zitat von der FMH stammt.
SwissDRG, Tarpsy: In der stationären Gesundheitsversorgung dominieren heute Vergütungssysteme, die auf Kostengruppen basieren. Sind sie erfolgreich? Darüber wird am Donnerstag und Freitag auch am 8. DRG- Forum Schweiz-Deutschland in Bern diskutiert.