Das Gesundheitswesen droht an seine Grenzen zu kommen. Schutzmaterialien fehlen, die Betten könnten knapp werden. Auf den ersten Blick scheint dies überraschend zu kommen. Schliesslich sorgt das Coronavirus in der Schweiz für einen Ausnahmezustand, wie es ihn seit Generationen nicht mehr gegeben hat. Doch: So überraschend kommt das Ganze trotzdem nicht. Das die Schweiz auf genau eine solche Situation schlecht vorbereitet war, war den Behörden bewusst.
Denn ein vom Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) in Auftrag gegebenes Gutachten warnte bereits im Dezember 2018 vor den Mängeln, die nun durch das Coronavirus effektiv zutage treten. Autor des Papiers ist der ehemalige und langjährige BAG-Direktor Thomas Zeltner. Pikant: Der Bund hat das Papier erst vor wenigen Wochen auf seiner Webseite publiziert, wo es Journalisten von SRF zufällig entdeckten.
Kantone haben falsch geplant
Zeltner schreibt in seinem Papier, dass die Kantone «einzeln und im Verbund die primäre Verantwortung zur gesundheitlichen Versorgung ihrer Bevölkerung in Normallagen, aber auch in besonderen und ausserordentlichen Lagen tragen».
Die Kantone müssten im Rahmen der kantonalen Spitalplanungen also auch personelle und strukturelle Reservekapazitäten für Notlagen einplanen.
Dann kommt Zeltners klares Urteil: «Ein Blick in die kantonalen Spitalplanungsunterlagen zeigt allerdings, dass dies heute nicht ausreichend der Fall ist.»
Doch wie viele Betten bräuchte es zusätzlich?
Zeltner führt Zahlen der US-Verwaltung an, wonach als Richtwert zur Bewältigung von Epidemien eine Zusatzkapazität von 500 Betten pro 1 Million Einwohner und von 50 Betten pro 1 Mio Einwohner für nicht-infektiöse Notfallsituationen sinnvoll ist. Die Nato empfiehlt gar 1000 Zusatzbetten pro Million Einwohner.
Zeltner nimmt den Richtwert aus den USA. Für die Schweiz würde dies eine Zusatzkapazität von rund 4250 Betten auf 8,5 Mio. Einwohner bedeuten. Sprich: Es fehlen heute über 4000 Betten. Zum Vergleich: In der Schweiz gibt es (Stand 2018) knapp 38'000 Betten. Akutbetten sind es derweil aber nur rund 24'000. Gemessen an den Akutbetten fehlen also rund 14 Prozent der Betten.
Neubauten ohne Nutzen für Krisenfälle
Zeltner kritisiert weiter, dass in der Schweiz in den kommenden Jahren zwar für rund 20 Milliarden Franken rund 70 Spitäler «neu gebaut oder substantiell umgebaut werden» - dabei «die zusätzlichen Bedürfnisse für Notlagen/ Katastrophen» aber nicht berücksichtigt würden.
Gutachten sah die Materialknappheit bevor
Das Schutzmaterialien in den Spitälern aktuell fehlen oder knapp sind, erstaunt nach der Lektüre von Zeltners Bericht nicht mehr. Dieser schreibt, dass die Schweiz in Bezug auf die stete und ununterbrochene Versorgung mit medizinischen Gütern in sehr hohem Masse vom Ausland hängig sei. Versorgungsengpässe seien deshalb häufig und zu einem wachsenden Problem geworden. Deshalb habe das Bundesamt für Wirtschaftliche Landesversorgung als eine der Massnahmen zur Risikoreduktion die Kantone aufgefordert, in ihren Gesundheitseinrichtungen einen Minimalstock an Medikamenten, Medizinprodukten und Labormaterialien zu lagern.
Doch: «Die Kantone haben diese Forderung bislang nicht oder nur unvollständig umgesetzt.» Wie hätten sie anders machen können? Zeltner: «Auch hier wäre die zweckmässigste Lösung, dieses Anliegen in die Leistungsvereinbarung der Kantone mit den Spitälern aufzunehmen.»
Koordination der hochspezialisierte Medizin nicht krisentauglich
Zeltner attestiert den Kantonen zwar, dass diese ihre Bemühungen zur interkantonalen Koordination verstärkt hätten. Doch würde etwa die Interkantonale Vereinbarung, mit der die hochspezialisierte Medizin koordiniert wird, den erhöhten Bedarf, der sich bei Notfallsituationen oder Katastrophen ergeben könnte, nicht oder zu wenig berücksichtigen. Und dies obschon die Kantone deshalb vom Koordinierter Sanitätsdienst der Armee mehrfach abgemahnt worden seien.
Der Bericht Zeltner stellt der Schweizer Vorbereitung auf den Krisenfall kein gutes Zeugnis aus - nennt mehrere Problembereiche. Die von ihm benannten Versäumnisse scheinen sich nun zu rächen.
Das Gutachten von Thomas Zeltner finden Sie hier.