Dass angesichts steigender Krankenkassenprämien nach Kostensenkungsmassnahmen gerufen wird, ist normal. Und weil Bundesrat Alain Berset der Botschafter der unheilvollen Entwicklung ist, gerät er schnell mal ins Kreuzfeuer.
So nannte der Krankenkassendachverband
Santésuisse via
NZZ sechs Punkte, bei denen der abtretende Gesundheitsminister durchaus den Hebel hätte ansetzen können, so dass der Prämienanstieg weniger steil ausgefallen wäre - laut Santésuisse um rund 5 statt der 8,7 Prozent.
Otto Bitterli war 14 Jahre CEO des Krankenversicherers
Sanitas. Am 12. Juli 2023 sagte er
in einem Interview: «Den Bundesrat für die kurzfristige Prämienentwicklung verantwortlich zu machen, ist falsch». Der grösste Teil der Kosten entstünde in den Kantonen. «Andere treffen deshalb eine grössere Schuld.»
6 Massnahmen
Das sind die sechs Punkte, bei denen Bundesrat Alain Berset laut Santésuisse hätte aktiv werden sollen.
- Vertriebsmargen der Medikamente kürzen:
- Generika-Preise senken
- Einsatz von Generika fördern
- Überflüssige Leistungen streichen
- Spitäler unter Druck setzen
- Labortarife tiefer ansetzen
Drei der genannten Massnahmen betreffen Medikamente. Halt, Medikamente, war da was? Im Frühjahr, als sich nur wenige für die hohen Prämienerhöhungen interessierten, obschon sie sich bereits abzeichneten, beherrschte ein ganz anderes Thema die Schlagzeilen: Lieferengpässe bei Arzneimitteln. Wie passt das zusammen?
«Viktor»-Preisträger
Enea Martinelli ist nicht nur der bekannteste Spitalapotheker des Landes: er ist der bekannteste Apotheker der Schweiz. Im Frühjahr hat er bei der von Medinside und Santémedia verliehenen
Viktor-Preisverleihung den Award in der Hauptkategorie
«Herausragendste Persönlichkeit» gewonnen.
Enea Martinelli: «Steigt der Druck auf die Generikapreise, riskiert man noch grössere Probleme bei den Lieferengpässen.»
Seit Jahren kämpft er gegen Lieferengpässe bei Arzneimitteln. Was meint der Berner Oberländer zu den Vorwürfen der Krankenkassen in Richtung Bundeshaus? «Steigt der Druck auf die Generikapreise, riskiert man ohne gezielten Blick auf die Versorgung gleichzeitig auch noch grössere Probleme bei den Lieferengpässen», erklärt er auf Anfrage.
Schon heute gibt es für einen Drittel der Medikamente mit abgelaufenem Patent kein Generikum, weil der Markt zu klein ist. Und damit gibt’s bei Schwierigkeiten keine Alternative. Steigen einzelne Hersteller aus, dann verdünnt sich das Angebot noch weiter.
Das Beispiel Bactrim®
Dazu ein Beispiel: Vor zehn Jahren hatte das Antibiotikum Bactrim® sechs generische Alternativen. Heute gibt es noch das Original und ein Generikum. Den Sirup für Kinder gibt’s nur noch von einem einzigen Hersteller.
Wobei Martinelli nicht grundsätzlich gegen Preissenkungen ist, sofern dazu ein Konzept zur Versorgungssicherheit besteht. Dieses Konzept soll die Konsequenzen einer Preissenkung aufzeigen. «Es gibt Medikamente, auf die sind wir in der Schweiz nicht angewiesen, bei einigen bewegen wir uns auf dünnem Eis», sagt der Apotheker. Deshalb seien konzeptlose Preissenkungen unverantwortlich.
Gegen eine Förderung von Generika ist laut Martinelli nichts einzuwenden. Aber man müsse aufpassen, dass das Marktumfeld überhaupt mehrere Generika zulasse. Es nütze nichts, Preise zu senken und dann günstige Medikamente ganz zu verlieren. Die Förderung habe deshalb ihre Grenzen. Und auch dazu brauche es ein Konzept. «Wenn die Kantone für die Versorgung zuständig sind und der Bund für die Rahmenbedingungen, dann hat so ein Konzept schon in der Entstehung einen schweren Stand.»
Fehlender Blick aufs Ganze
«Santésuisse hat keine Idee für den Gesamtblick. Der Verband scheibelt das Gesundheitswesen in Einzelstücke und verliert dabei das grosse Ganze aus den Augen», kritisiert Martinelli. «Santésuisse glänzt mehr mit Schlagworten als mit tauglichen Konzepten.»
So hält er auch wenig von einer Senkung der Vertriebsmarge, wie sie Santésuisse fordert. Streicht man die Apothekerlöhne insgesamt um 300 Millionen Franken, hätte das ein Apothersterben zur Folge.
Notfall statt Apotheke?
Wäre das so schlimm? Haben wir nicht zu viele Apotheken? «Dünnt man das Netz aus, dann gehen noch mehr Leute direkt auf die Notfallstation oder zum Hausarzt», sagt Martinelli.
Es würde vor allem die Randregionen treffen. Der Chefapotheker des Spitals Interlaken nennt das Beispiel im autofreien Wengen. Dort gibt es seit etwa zwei Jahren keine Apotheke mehr. Braucht ein Feriengast ein Medikament, muss er im autofreien Ort zu einem Arzt, um sich ein Medikament verschreiben zu lassen. Wenn dieser überlastet ist, dann muss der Feriengast das Medikament in der Apotheke in Interlaken abholen. Die Zugfahrt dauert laut SBB-App 40 Minuten.