Die Krise der Notfall-Praxen wurde in den vergangenen Tagen plötzlich zum beherrschenden politischen Thema in der Romandie. Angestossen wurde die Debatte durch den Beschluss der Genfer Kinderärzte, zur Weihnachtszeit
mit einem Ausstand zu protestieren. Intensiviert wurde sie durch eine
grosse Recherche, in der «Le Temps» den Druck aufzeigte, welchen die Krankenkassen momentan auf Praxen in der Westschweiz ausüben. Und in den Tagen seither wurde «l'affaire des centres médicaux d'urgences» mehrfach zum
Fernseh-,
Radio- und Zeitungsthema, von der
«Liberté» in Freiburg bis zum
«Nouvelliste» im Wallis.
Dabei geriet in der Westschweiz ein weiteres Detail ins Rampenlicht: die Rückforderungen der Krankenkassen. Oder genauer: die Absicht der Versicherer, auf diesem Wege ihre Reserven zu äufnen.
«Das Polster aufzufüllen, indem man die Gesundheitsversorgung gefährdet, ist inakzeptabel.» Céline Amaudruz, Nationalrätin SVP/VD.
Solche Absichten prangerten Volksvertreterinnen und -vertreter von SVP bis SP in einem
Folgeartikel von «Le Temps» an. Das sei «skandalös», sagte beispielsweise der Genfer SVP-Nationalrat und Apotheker Thomas Bläsi: «Ziel ist es, ein schlechtes Finanzmanagement durch die Auffüllung der dazugehörigen Rücklagen auszugleichen.»
Céline Amaudruz, ebenfalls SVP, meinte: «Ich finde es gelinde gesagt bedauerlich, dass die Kassen es nicht für nötig erachteten, auf diese Rechtslücke hinzuweisen, bevor sie die Rückerstattung der betreffenden Beträge forderten, mit der Gefahr einer Kaskade von Insolvenzen. Ich verstehe durchaus, dass die Aussicht auf eine Erhöhung der Reserven attraktiv ist, aber das Polster aufzufüllen, indem man die Gesundheitsversorgung gefährdet, ist inakzeptabel.»
Und die Waadtländer SP-Nationalrätin und Ärztin Brigitte Crottaz fand es «schlicht inakzeptabel, dass die Rückerstattungen in die Kassen der Versicherer und nicht in die Kassen der Versicherungsnehmer gehen».
Am entschlossensten formulierte es SP-Ständerat Baptiste Hurni: «Die Kassen müssen das Geld an die Menschen zurückgeben, die diese Tarife gezahlt haben, andernfalls erleben wir eine Form von Betrug ihrerseits. Das sind harte Worte, aber die Tatsache, dass die Kassen für ihre Versicherungsnehmer auftreten, gibt ihnen nicht das Recht, Beträge einzubehalten, die ihnen nicht gehören.»
Die Politiker-Umfrage der Zeitung machte zudem spürbar, dass das Thema noch in der jetzt anlaufenden Wintersession auf den Traktandenlisten der parlamentarischen Gesundheitskommission auftauchen wird.
«Ein Spital wie das CHUV kann in seinen Notaufnahmen nicht täglich 200 oder 300 Patienten zusätzlich aufnehmen.» Philippe Eggimann, FMH-Vizepräsident.
Denn die Lage wird in der Westschweiz als sehr kritisch beschrieben. «Hunderte Institutionen» hätten von den Kassen bereits die briefliche Aufforderung zu Rückerstattungen erhalten, sagte Philippe Eggimann, der Präsident der Société Médicale de la Suisse Romande, in der «Liberté».
Sollte es zu Insolvenzen von Notfallzentren und Gemeinschaftspraxen kommen, könnten die Folgen dramatisch sein, warnte Eggimann und nannte das Beispiel des Waadtlands: «Ein Spital wie das CHUV kann in seinen Notaufnahmen nicht täglich 200 oder 300 Patienten zusätzlich aufnehmen. Es gibt weder die Infrastruktur noch das Personal dafür. Wir würden in eine Art Katastrophenmedizin eintreten und Komplikationen bis hin zum vermeidbaren Tod von Patienten riskieren.»
Gesucht: Rechtssicherheit
Der Haus- und Kinderärzteverband
MFE meldet derweilen, dass bereits «intensive Gespräche mit und unter den relevanten Partnern wie FMH, Versicherern, sowie Kantonen, GDK und BAG» im Gang seien, um wieder Rechtssicherheit zu schaffen.
«Die Versicherer sehen für einen Teil der Kosten für die Notfallversorgung auch die Kantone in der Pflicht und wollen mit der aktuellen Rückforderungspraxis auch Druck auf diese ausüben», heisst es in der Stellungnahme: «Dieser Konflikt wird, mit dem teils aggressiven Vorgehen der Krankenkassen, nun ausgerechnet auf dem Buckel der haus- und kinderärztlichen Praxen ausgetragen.»
Philippe Eggimann sieht im Bundesgerichts-Urteil allerdings auch eine Chance, die Finanzierung des Systems zu überdenken. Denn in der Tat sei der alte Tarmed-Inkonvenienz-Tarif überholt: «Ursprünglich war er dazu gedacht, Hausärzte zu entschädigen, die Hausbesuche machten oder zu dringlichen Einsätzen aufbrachen und dafür ihre Organisation umstellen mussten», sagte er der «Liberté»: «Doch diese Realität gibt es schon lange nicht mehr.»