Das Bundesamt für Statistik konnte jüngst wieder
erfreuliche Zahlen veröffentlichen: Der plötzliche Kindstod verliert drastisch an Bedeutung. Vor einem Vierteljahrhundert – 1990 – war er noch die Ursache bei jedem sechsten Todesfall eines Babys in der Schweiz; genauer gesagt: in 17 Prozent der Fälle. Bis zum jüngsten Erhebungsjahr, 2014, sackte die Quote auf 3 Prozent ab. Bei keinem anderen Befund zur Säuglingssterblichkeit liess sich nur annähernd ein solch deutlicher Rückgang festmachen.
Es gibt gute Erklärungen für diesen Fortschritt: Seit den frühen 1990er Jahren breitete sich auch die Erkenntnis aus, dass man das Kind in Rückenlage schlafen lassen soll. Oder dass Überwärmung zu vermeiden sei. Oder dass man im Umfeld eines Neugeborenen nicht rauchen sollte.
Eine Krankheit ist eine Definition
Auf einen weiteren Faktor verweist nun aber ein Fachbeitrag, der jetzt in «Jama Pediatrics» erschienen ist, also der Pädiatrie-Fachpublikation des «Journal of the American Medical Association».
Seine Kernaussage: Das Sudden Infant Death Syndrome sei deshalb am Verschwinden, weil die beurteilenden Mediziner dieser Diagnose immer weniger über den Weg trauen. Es geht um eine Definitionsfrage.
Autor des Beitrags ist Ernest Cutz, ein Pathologe der Universität Toronto. Ihm war aufgefallen, dass in seiner Heimatprovinz Ontario in den letzten zwei Jahren kein einziger Fall von plötzlichem Kindstod mehr registriert worden war. In früheren Jahren hatten die Ärzte und Leichenbeschauer in Ontario – mit einer Bevölkerung von 13,5 Millionen Menschen – durchschnittlich 128 Fälle von plötzlichem Kindstod notiert.
Cutz machte das Phänomen auch in anderen Gegenden Nordamerikas fest, etwa in Michigan oder im Raum New York; dort brach die Zahl der registrierten Fälle von SIDS um 85 bis 95 Prozent ein. Dafür wird jetzt wieder verstärkt auf pneumonia, auf Erstickungstod oder – was am häufigsten vorkommen soll – auf «unbestimmt» erkannt: «undetermined».
Eine Errungenschaft der Sixties
Im Hintergrund steht – auf der anderen Seite –, dass das Syndrom mit dem Namen «Plötzlicher Kindstod» in den späten 1960er Jahren eingeführt wurde, wobei drei Ziele verfolgt wurden: Förderung einer fokussierten Forschung auf diese Art der tragischen Todesfälle; Trost für die Eltern durch das Wissen, dass der Tod ihres Kindes die Folge eines natürlichen Krankheitsbildes ist; Entlastung der Eltern oder Betreuungspersonen vom Verdacht, sie könnten schuldig sein am Tod des Säuglings.
«Es scheint, dass die Uhr zurückgedreht wurde», schreibt der kanadische Pathologe jetzt, «und dass der diagnostische Begriff SIDS am Verschwinden ist». Oder anders gesagt: Es fragt sich, ob der Zeitgeist – wie in vielen anderen Fragen – auch hier durchschlägt und dabei eine Idee aus den liberalen Sixties wieder entsorgt.
Widerspruch der Schweizer Daten
Allerdings: Aus Schweizer Sicht muss zuerst einmal eingeschränkt werden. Die BfS-Daten belegen keine Wahrnehmungs-Verschiebung. Gewiss, auch sie zeigen den erwähnten Rückgang beim plötzlichen Kindstod; aber auf der Gegenseite stiegen Befunde wie «unbekannt» beziehungsweise Atemwegs- oder Kreislauf-Ursachen nicht an. Man darf also hoffen, dass die Sensibilisierung für das benannte Syndrom tatsächlich positive Wirkungen hatte.
Doch Pathologe und Pathobiologe Cutz sieht seinen Beitrag als Warnung (denn er selber hegt keinen Zweifel daran, dass hinter dem Begriff des plötzlichen Kindstodes auch ein biologischer und genetischer Ursachenkomplex steht, der einen gemeinsamen Namen verdient); und aus hiesiger Sicht könnte der «Jama»-Artikel sogar als Frühindikator gelesen werden: Nach dem Rückgang der Fälle könnte die Absage an das ganze Phänomen folgen.
Es geht um die mögliche Entwicklung, dass sich ein Krankheitsbild mit dem Rückgang der Diagnosen selber auflöst. Für den Preis, dass die entsprechende Forschung ebenfalls vom Verschwinden bedroht wäre. Und dass wieder mehr Eltern mit dem Urteil zurückgelassen werden, ihr Kind sei aus unklaren Gründen gestorben.